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Tonio

Tonio

Titel: Tonio
Autoren: A.f.th. van Der Heijden
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Bauernhof und blechernen Kinderstimmen auf dem Campingplatz gestört wird. Dann beginnen, zunächst zögernd und fragend, die Vögel zu flöten, ein paar Stunden nachdem die frühe Hitze sie hat verstummen lassen. Sie singen, wie sie es bei Einbruch der Dämmerung gewohnt sind – melancholischer, ergebener, weniger schrill als bei Sonnenaufgang.
    »Gleich, mein Schatz«, sagt Mirjam, als Tonio ihr die Brille noch einmal anbietet. »Lieber gleich, wenn sie ganz dunkel ist.«
    »Hier im Süden«, sage ich, »werden es nur achtzig Prozent.«
    »Schrei nicht so«, sagt Mirjam so leise, daß ich es fast nicht verstehe. »Ich möchte diese besondere Stille hören.«
    Ich schreie nicht, rede noch nicht einmal mit erhobener Stimme, aber die Stimmung ist jetzt so fragil und intim und einsam, daß jedes menschliche Geräusch zu laut klingt. Durch die Schutzbrille ist ein sternenloser Nachthimmel zu sehen mit einem abnehmenden Mond.
    »Das finde ich so schön an einer Finsternis«, flüstere ich Tonio zu, als ich ihm die Brille zurückgebe, »daß die Sonne sich für diese Gelegenheit als Mondsichel verkleidet. Willkommen beim Maskenball der Himmelskörper. Dem Karneval des Sonnensystems.«
    Tonio setzt seine gelangweilte Miene auf und gibt mir die Standardantwort, mit der er seine Mutter plagiiert: »Bestimmt gut gearbeitet heute.«
    Abgesehen von ein paar dünnen Bänken knapp oberhalb des Horizonts, ist der Himmel unbewölkt, aber er wirkt trotzdem nicht blau, sondern eher farblos: ein körniges Hellgrau wie das von Natureis, bedeckt mit einer dünnen SchichtPulverschnee. Bei den frischen Kondensstreifen neben der zum größten Teil verfinsterten Sonne frage ich mich, ob sie nicht eigens zu dieser Stunde von ein paar eitlen Düsenjägerpiloten an den Himmel gemalt wurden. Ganz Frankreich schaut jetzt hinauf, und Narrenhände beschmieren Tisch und Wände. Die Initialen in einen Pyramidenquader zu kratzen ist dauerhafter, doch heute erzielt das Schreiben mit Dampf am Himmel mehr Effekt. Schon seit ich als Kind den Kopf in den Nacken legen konnte, um zum Himmel hinaufzuschauen, versuche ich, die Schrift der Kondensstreifen zu entziffern. Manchmal bilde ich mir ein, daß die Botschaft angekommen ist. Heute werde ich aus den durch die verfinsterte Sonne blaß gewordenen Schriftzeichen nicht schlau.
    Die Stille wird plötzlich von einem Auto durchbrochen, das, für uns unsichtbar, über den befestigten Sandweg an unserem Garten vorbeirast. Hochfliegende Steinchen springen in die Hecke und fallen raschelnd durch die trockenen Blätter zu Boden.
    »Menschenskind«, sagt Mirjam. »Der hat bestimmt versprochen, vor dem Dunkelwerden zu Hause zu sein.«
    Die Sonnenfinsternis nähert sich ihrem französischen Maximum von achtzig Prozent. Auf unserem Grundstück wird es jetzt definitiv Abend, allerdings ohne das Kontrastlicht, das Äste wie aus schwarzem Papier ausgeschnitten wirken läßt. Anders als bei einer normalen Abenddämmerung in der Dordogne ist diese atmosphärisch beklemmend und seelenlos. Tonio reicht mir die Pappbrille.
    »Ich glaube«, sagt er, »weiter geht es nicht mehr.«
    Ich setze die Brille auf. Von der Sonne ist immer noch ein kräftiger Zehennagel übrig. Ich schaue ihn lange an, in der Hoffnung, den Lichtbogen noch schmaler werden zu sehen. Der Prozeß scheint zum Stillstand gekommen zu sein. Tonio grabscht sich die Brille von meiner Nase und setzt sie sich selbst auf. Er steht auf dem Liegestuhl.
    »Es ist vorbei«, sagt er schon nach wenigen Sekunden.»Da, behalt sie.« Er wirft mir lässig die Brille zu. »So, und jetzt will ich nichts mehr damit zu tun haben.«
    Er rennt die kurze Steintreppe zur Haustür hinauf und verschwindet im dunklen Haus.
    »Was ist mit Tonio?« fragt Mirjam. Sie liest noch immer, allerdings mit der Sonnenbrille auf der Stirn und dem Buch dicht vor den Augen.
    »Für ihn war’s das.«
    Typisch Tonio. Wenn er die Funktionsweise von irgend etwas, sei es eine Maschine oder ein Naturphänomen, erst mal ergründet hat, verliert er die Geduld. Es gibt noch mehr auf der Welt, das seine Aufmerksamkeit erfordert.
    Wie es weiterging, weiß ich aus meinem Tagebuch. Auf dem Höhepunkt der Finsternis schweigen die Vögel. Wenn das Licht wiederkehrt, beginnt einer nach dem anderen erneut zu singen, jetzt vorsichtig entzückt, wie beim Morgengrauen. Es ist Viertel nach eins. Tonio taucht nicht mehr auf. Ganz langsam nimmt der Himmel eine Blautönung an. Als ich mein Gesicht in die Sonne halte, spüre
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