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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
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schauen, wem es schlechtgeht.«
    »Das ist ja noch verworrener.«
    Tolstoi trank einen Schluck Tee.
    »Etwas anderes wird dich interessieren – mir ist der Familienname von diesem Ariel eingefallen. Er hieß Ariel Edmundowitsch Brahman.«
    »Brahman?«, fragte Sofja Andrejewna. »An den erinnere ich mich. Das war doch der Prosektor, den wir in Odessa getroffen haben?«
    »Genau. Die Kippa. Aber der Brahman im Traum sah ihm überhaupt nicht ähnlich«, sagte Tolstoi.
    »Wer war das?«, fragte Tschertkow.
    »Auf der Durchreise in Odessa«, erklärte Sofja Andrejewna, »hatten wir im Hotel einen Nachbarn, einen höchst sonderbaren Herrn aus Warschau. Er hat versucht, Ljowa die Kippa zu stehlen, die er von den Odessiter Juden geschenkt bekommen hatte. Dabei war er kein gewöhnlicher Dieb, das war sofort klar, denn das Zimmermädchen hat ihn ertappt. Wir wollten schon den Polizeimeister holen, aber er fiel auf die Knie, fing an zu weinen und gestand, er habe nur eine Kleinigkeit zur Erinnerung an den großen Mann haben wollen. Meine Frau ist schwanger, sagte er, ich will meinen Kindern diese Kippa aufsetzen, vielleicht werden sie dann auch Schriftsteller.«
    Als der Übersetzer diesen langen Satz übersetzt hatte, fragte der Inder:
    »Und wie ging die Geschichte aus?«
    »Ljowa fand es amüsant«, fuhr Sofja Andrejewna fort. »Er schenkte ihm die Kippa und trank sogar einen Wodka mit ihm. Alles gut und schön, sagte er zu ihm, nur hat die Kippa damit nichts zu tun …«
    Die Tischrunde fing an zu lachen.
    »Aber siehst du, Ljowa, es hat geklappt«, sagte Sofja Andrejewna, »wenn auch nur im Traum. Vielleicht war das der Sohn oder der Enkel von diesem Brahman. Oder sogar der Urenkel.«
    »Euch soll einer begreifen!« Tolstoi winkte ab. »Tschertkow sagt, ich selbst sei Ariel, und du meinst, er sei der Nachfahre des Prosektors, der die Kippa stehlen wollte. Übrigens hatte er im Traum Komplizen, denen ich in Odessa ganz bestimmt nie begegnet bin.«
    Er wandte sich an den Inder.
    »Was ist das eigentlich für ein Amulett?«
    »Es heißt ›Buch des Lebens‹«, begann der Inder und machte eine Pause für den Übersetzer. »Wo und wann es hergestellt wurde, ist nicht bekannt, aber es wird seit vielen Jahrhunderten wie ein Schatz von einer Generation an die nächste weitergegeben. Es heißt, wenn man das Amulett am Hals trägt und einschläft, hat man einen prophetischen Traum.«
    »Und woher haben Sie es?«
    »Ich habe es von meinem Lehrer bekommen und der wiederum hat es von seinem Lehrer. Sie glaubten, dass das goldene Buch einen Blick in die Zukunft gestattet. Aber diese Zukunft wird immer durch das Prisma des Geistes betrachtet, der sie sieht. Daher ist das Gesehene zwangsläufig verunreinigt – oder vielmehr bedingt – durch die persönliche Erfahrung desjenigen, der sieht. Wenn Sie zum Beispiel Kavallerist sind, dann sehen Sie am ehesten die Zukunft der Kavallerie. In Ihrem Traum tauchen dann vielleicht feuerspeiende Eisenrösser auf. Ich erinnere mich da an einen solchen Vorfall …«
    »Und wenn Sie ein Lew sind, der Bücher schreibt«, erwiderte Tolstoi, »dann werden Sie von den Nachfahren eines verrückten Prosektors zerfleischt, der davon geträumt hat, seine Nachkommenschaft würde sich der Literatur widmen.«
    Der Übersetzer erklärte ausführlich das mit den Namen Lew und Ariel verbundene Wortspiel. Dann sagte Tolstoi nachdenklich:
    »Einige Details der künftigen Welt waren … wie soll ich das sagen, sie waren im Traum vollkommen verständlich und angemessen, sind aber jetzt vollkommen sinnlos. Ich kann mich nicht einmal genau daran erinnern. Wissen Sie, das ist, als hätte man Ihnen im Traum auf Arabisch erklärt, wie ein Phonograph funktioniert, und Sie hätten zwar alles verstanden, könnten das aber nach dem Aufwachen nicht mehr wiedergeben.«
    »Das ist der beste Beweis«, sagte der Inder, »dass das Experiment echt war.«
    Tolstoi zuckte die Achseln.
    Am Tisch kehrte Ruhe ein. Knopf nutzte den Moment, räusperte sich und sagte taktvoll:
    »Lew Nikolajewitsch! Ich möchte mich noch einmal für das Missverständnis entschuldigen …«
    Die Tischrunde brach in Gelächter aus.
    »… und mitteilen«, fuhr Knopf tapfer fort, »dass der Phonograph jetzt instand gesetzt und zur Arbeit bereit ist, sobald Sie geruhen, es anzuordnen.«
    »Ich bin es, der sich zu entschuldigen hat«, erwiderte Tolstoi. »Vielen Dank, Herr Knopf … Hm. Es ist irgendwie eigenartig, Sie ohne Revolver zu sehen.«
    »Ljowa, du
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