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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
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der Liberalen erzeugt haben, damit das segensreiche Brodeln des Marktes unter dem verlöschenden Blick von Ariel Edmundowitsch Brahman nicht nachlässt. Das Licht muss schließlich etwas beleuchten. Aber jetzt ist es Zeit, nach Hause …«
    »Zuerst müsste man diesem Haus einen Namen geben«, sagte das Pferd plötzlich und sah sich um.
    »Das ist unmöglich«, erwiderte T. »Das ist es ja eben.«
    »Wieso?«, fragte das Pferd. »Vielleicht kann man es nicht beschreiben. Aber einen Namen kann man ihm durchaus geben.«
    »Zum Beispiel?«
    »Es müsste meiner Meinung nach ein russisch-lateinischer Ausdruck sein. Um zu zeigen, dass die Zivilisation des Dritten Roms in der Nachfolge derjenigen des Ersten Roms steht. Damit schlagen wir zwei Ariel Edmundowitschs auf einmal – wir kriechen den Hardlinern in den Hintern und schütteln den Liberalen die Hand … Wie gefällt Ihnen die Kombination ›Optina Pustyn‹, Graf?«
    »Wo ist da das Latein?«
    »Ich bitte Sie – ›Optina‹ kommt vom lateinischen Verb ›optare‹, also ›auswählen, wünschen‹. Es ist wichtig, dass die Konnotationen auf eine endlose Reihe von Möglichkeiten verweisen. Und ›Pustyn‹ – das ist pustota , die Leere – ohne sie geht es nicht. Wie viele Sinnmöglichkeiten sich hier eröffnen …«
    »Kommt mir nicht so vor«, sagte T.
    »Wieso denn nicht?«, fragte das Pferd beleidigt. »Ich an Ihrer Stelle … Ich wäre jetzt im Wagen aufgesprungen und hätte geschrien: Ja, Optina Pustyn! Ein Fenster, das nach allen Seiten hin offen ist! Das kann nicht sein, aber das ist so …«
    Das Pferd hielt beim Gehen den Kopf zu T. gedreht und der Wagen beschrieb einen weiten, gleichmäßigen Kreis.
    »Dieses Fenster bin ich«, fuhr das Pferd fort und funkelte mit seinem purpurroten Auge. »Ich bin auch der Ort, an dem das Universum existiert, das Leben, der Tod, der Raum und die Zeit, mein jetziger Körper und die Körper aller anderen Beteiligten dieser Vorstellung – obwohl, wenn man es sich recht überlegt, an diesem Ort überhaupt nichts ist …«
    »Hacken wir nun einen Finger ab?«
    Das Pferd fing an zu wiehern.
    »Das wäre großartig zum Abschied«, sagte es liebedienerisch. »Man kann das als Akt äußersten Nichtstuns an der letzten Schranke bezeichnen. Wenn Sie wissen wollen, was ich wirklich denke …«
    »Damit musst du zu Tschapajew.«
    Das Pferd blieb nun sogar stehen.
    »Warum zu Tschapajew?«
    »Er ist Kavallerist. Es wird ihn interessieren, was ein Pferd denkt …«
    »Und wo finde ich den jetzt?«
    »Du findest ihn schon«, sagte T. »Ich spüre ganz genau, dass Ariel Edmundowitsch in einem Recht hatte – das, was er ›Realität‹ nannte, treibt irgendwo Keime. Soll sich Tschapajew damit herumschlagen. Vielleicht kannst du ihn wegen des Fingers überzeugen. Und jetzt weiter …«
    Das Pferd ging weiter und T. schloss die Augen.
    Vor ihm war wieder die vertraute Dunkelheit, voll unsichtbaren Lichts, das sich in einer Masse flirrender Lichtpünktchen zeigte. Sie ließen sich nicht erhaschen; wenn man sie ansah, verschwanden sie, aber gemeinsam verwandelten sie die Schwärze in etwas anderes, das weder Finsternis noch Licht war. T. dachte, das sei das einzige wirklich von oben gegebene Bild Gottes, weil jeder Mensch es von Kindheit an mit sich trägt. Und wenn man aufmerksam hinsieht, gibt es dort alle Antworten auf alle Fragen …
    Er spürte eine Bewegung, schlug die Augen auf und sah den roten Kater – er hatte den Wagen schon eingeholt und saß nun neben ihm im Heu.
    »Soll ich ein Gedicht vorlesen, Graf?«, fragte das Pferd. »Ich glaube, es würde zu diesem Moment passen.«
    »Von wem ist das Gedicht?«
    »Von mir.«
    »Lies vor«, sagte T. »Ich bin gespannt.«
    Das Pferd machte schweigend ein paar weitere Schritte – anscheinend holte es noch Atem – und fing dann in singendem Tonfall an:
    Wie an der Neige der Zeit Gott hervortritt zu Dritt,
    Zu singen vom Schicksal der Schöpfung, deren Kreis sich nun schließe,
    Des Museumsfriedhofs Friedhof dehnt sich in die Ödnis,
    Und wandelt sich nach langer Übung einfach in Wiese.
    Der Menschheit uralter Feind tritt heraus, auf sein Recht zu pochen,
    Und plötzlich erkennt er voll Trauer, dass er vergebens begann.
    Die Wiese verwandelt sich in Erde, aus der wächst das Gras.
    Danach verschwindet jeder, der sie so nennen kann.
    Was rechts ist, wird vergessen, was links ist, verdirbt.
    An dieser Stelle kommt eine technische Störung im Reime.
    Doch ist nun genug gesungen, und der,
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