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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
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Taten? Hier wage ich Euer Ehrwürden zu widersprechen. Graf T. ist eine der großen moralischen Autoritäten unserer Zeit. Und seine Größe wird durch die Exkommunikation keineswegs gemindert. Aber die Autorität der Kirche, mit Verlaub …«
    »Welche Gründe haben Sie denn, den Grafen T. als moralische Autorität anzusehen?«, erkundigte sich der Geistliche.
    »Aber ich bitte Sie! Er ist der Beschützer der Unterdrückten, ein edelmütiger Aristokrat, der sich nicht scheut, das Böse dort herauszufordern, wo Polizei und Regierung machtlos sind … Ein Idol der einfachen Menschen. Und der Liebling der Frauen. Ein echter Volksheld, auch wenn er ein Graf ist! Kein Wunder, dass ihn allmählich selbst das Herrscherhaus fürchtet.«
    Das Wort »Herrscherhaus« sprach Knopf mit bedeutungsvoll aufgerissenen Augen im Flüsterton und zeigte dabei mit dem Finger nach oben.
    »Es ist alles ganz eitel, und alles ist eitel«, 3 sprach Vater Paissi mit einem Lächeln. »Moralische Autorität erlangt man durch Verfolgungen und Qualen und nicht durch den Beifall der Menge. Andernfalls müsste man diese Autorität auch der Tänzerin zuschreiben, die des Abends ihre nackten Beine in die Luft wirft, während der Saal sie durch das Lorgnon betrachtet.«
    Vater Paissi zeigte mit zwei Fingern, wie die Beine in die Luft geworfen werden.
    »Graf T. ist doch keine Tänzerin«, wandte Knopf ein. »Und auch vor Verfolgungen ist er keineswegs gefeit. Wissen Sie, dass die Polizei ihn heimlich überwachen lässt und dass er das Gut nicht verlassen darf? Angeblich fürchten die Behörden um seinen Verstand. Gerüchten aus Familienkreisen zufolge hat der Graf sich entschlossen, das Gut zu verlassen und nach Optina Pustyn 4 zu gehen.«
    »Nach Optina Pustyn?«, fragte Vater Paissi stirnrunzelnd. »Zu welchem Zweck? Und was ist das überhaupt?«
    »Der Zweck ist mir nicht bekannt. Und über den Sinn dieser beiden Worte sagt man so allerlei. Manche meinen, das sei ein geheimes Kloster, wo der Graf sich ein spirituelles Geleitwort der heiligen Einsiedlermönche holen will. Andere behaupten, die Sekte der Hesychasten bezeichne mit Optina Pustyn die äußerste mystische Grenze, den Gipfel spiritueller Erhöhung, und man dürfe es nicht im geografischen Sinne verstehen. Und in Regierungskreisen schließlich … Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, was die sich denken, aber irgendwie erscheint ihnen die Absicht des Grafen, nach Optina Pustyn zu gelangen, als gefährlich. Man hat die besten Agenten der Geheimpolizei ausgeschickt, sich dem Eisenbart in den Weg zu stellen.«
    »Dem Eisenbart?«, fragte der Geistliche.
    »Ja, so nennt man den Grafen in der Dritten Abteilung.«
    »Woher haben Sie diese Kenntnisse?«
    Knopf zog bereitwillig eine zusammengefaltete Zeitung aus der Tasche:
    »Hier bitte, das steht in den Petersburger Verstreuten Nachrichten .«
    Der Geistliche fing an zu lachen.
    »An Ihrer Stelle würde ich den Gerüchten, die diese Blätter verbreiten, keine Bedeutung beimessen. Das ist doch alles leeres Gerede, glauben Sie mir.«
    Knopf sah auf die Uhr und blickte dann den Geistlichen aufmerksam an.
    »Immerhin sind die Informationen über den Hausarrest des Grafen nur allzu wahr«, sagte er. »Wissen Sie, ich habe Beziehungen zur Polizei. Man hat mir das im Vertrauen erzählt. Und noch allerhand Interessantes mehr.«
    »Was denn genau, wenn man fragen darf?«
    »Es heißt«, sagte Knopf und blickte Vater Paissi dabei eindringlich an, »Graf T. habe sich einen Doppelgänger zugelegt, einen großen, kräftigen Bauernburschen, dem er aus einer alten Perücke einen Bart gemacht hat. Den schickt er zum Pflügen, wenn der Expresszug vorbeikommt, damit er selbst sich verkleiden und das Gut unbemerkt verlassen kann. Dann steigt er in den Zug, und zwar genau da, wo Sie eingestiegen sind, Väterchen, und geht seiner eigenen Wege …«
    »Was Sie nicht sagen!«, ließ Vater Paissi sich vernehmen. »Interessant. Für einen Eisenwarenhändler, Herr Knopf, sind Sie sehr gut unterrichtet über polizeiliche Belange.«
    »Und Sie, Väterchen, sind für einen Geistlichen über die Maßen gut ausgerüstet. Zum Beispiel das Schießeisen da unter Ihrer Kutte, der Griff steht ja sogar hervor. Wozu brauchen Sie das Ding?«
    Der Geistliche fuhr mit der Hand unter die Kutte und zog einen langen, blinkenden Revolver heraus.
    »Den hier?«, fragte er und betrachtete ihn, als hätte er ihn noch nie gesehen. »Wegen der Wölfe. Unsere Gemeinde liegt im Wald, von der
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