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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice
Autoren: Jake Adelstein
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fand ich jedoch wirklich eindrucksvoll. Als der Begriff »Menschenhandel« im allgemeinen Wortschatz noch fehlte, veröffentlichte die Yomiuri eine Reihe von schonungslos offenen, gut recherchierten Artikeln über das Leid der thailändischen Frauen, die als Prostituierte nach Japan geschmuggelt wurden. Die Autoren schrieben einigermaßen respektvoll über die Frauen und kritisierten die Polizei zumindest moderat, weil sie kaum etwas gegen diesen Skandal unternahm. Die Zeitung schien mir fest auf der Seite der Unterdrückten zu stehen und für Gerechtigkeit einzutreten.
    Da die Prüfungen der Asahi und der Yomiuri am selben Tag stattfanden, entschied ich mich für die Yomiuri .
    Die Prüfung war Teil des Journalismusseminars der Yomiuri Shimbun , das inoffiziell als gute Gelegenheit galt, Mitarbeiter anzuwerben, bevor die offizielle Bewerbungssaison begann. So konnte die Zeitung die besten Hochschulabsolventen abschöpfen. Da die Yomiuri keine große Werbung für diese Tests machte, musste jeder, der Interesse hatte, die Zeitung sorgfältig durchforsten, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen. Alle Studenten, die den Ehrgeiz hatten, Yomiuri -Reporter zu werden, verschlangen daher die Seiten der Zeitung. In einem Land, in dem das Erscheinungsbild so wichtig ist, musste ich natürlich ordentlich aussehen. Als ich meinen Schrank durchwühlte, entdeckte ich, dass der feuchte Sommer meine beiden Anzüge zu Nährböden für Pilze gemacht hatte. Also trottete ich zu einem riesigen Discount-Herrenausstatter und kaufte einen Sommeranzug für etwa 300 Dollar, der aus dünnem Stoff bestand, angenehm zu tragen war und einen schönen schwarzen Farbton aufwies. Ich gefiel mir darin.
    So elegant gekleidet wollte ich meinen Freund Inukai, den Chefredakteur der Studentenzeitung, beeindrucken, doch als ich im Büro auftauchte, das sich in einem dunklen, kerkerartigen Keller befand, reagierte er anders als erwartet.
    »Jake-kun, mein Beileid.«
    Aoyama-chan, eine andere Kollegin, wirkte nachdenklich, aber sie sagte kein Wort.
    Ich verstand nicht, was los war.
    »Was ist denn passiert? War es ein Freund?«
    »Ein Freund?«
    »Der gestorben ist?«
    »Hä? Niemand ist gestorben. Allen, die ich kenne, geht es gut.«
    Nun nahm Inukai die Brille ab und polierte sie mit seinem Hemd. »Du hast diesen Anzug also selbst gekauft?«
    »Klar. 30 000 Yen.«
    Inukai fand das offenbar lustig, das konnte ich daran erkennen, dass er die Augen zusammenkniff wie ein glückliches Hundebaby. »Was für einen Anzug wolltest du denn kaufen?«, fragte er dann ernst.
    »In der Anzeige stand reifuku .«
    Aoyama-chan kicherte.
    »Was ist denn?«, fragte ich. »Stimmt etwas nicht?«
    »Du Idiot! Du hast einen Anzug für Beerdigungen gekauft. Keinen reifuku , sondern einen mofuku !«
    »Na und, was ist denn da der Unterschied?«
    » Mofuku sind schwarz. Und niemand trägt einen schwarzen Anzug bei einem Vorstellungsgespräch!«
    »Niemand?«
    »Na ja, vielleicht ein Yakuza.«
    »Tja, könnte ich nicht so tun, als käme ich gerade von einem Begräbnis? Vielleicht kriege ich dann noch Sympathiepunkte.«
    »Stimmt, die Leute haben oft Mitleid mit geistig Behinderten.«
    Aoyama warf ein: »Oder du bewirbst dich bei den Yakuza. Die tragen Schwarz. Du könntest der erste gaijin bei ihnen sein.«
    »Nein, dafür eignet er sich nicht«, meinte Inukai. »Und was soll er machen, wenn sie ihn rauswerfen?«
    »Stimmt«, sagte Aoyama und nickte. »Wenn es nicht klappt, wird er kaum mehr als Reporter arbeiten können. Denn es ist nicht leicht, mit neun Fingern zu tippen.«
    Jetzt war Inukai in seinem Element. »Ich glaube nicht, dass er die Organisation mit neun Fingern verlassen könnte. Vielleicht mit acht. Er ist ein echter Schussel, grob, unbeholfen, nie pünktlich. Ein Barbar.«
    »Da hast du recht«, stimmte Aoyama zu. »Immerhin könnte er noch jagen und sammeln. Aber was die Karriere betrifft, ist die Yakuza wohl nichts für ihn, obwohl er in einem schwarzen Anzug wirklich gut aussieht.«
    »Also, was soll ich jetzt machen?«
    »Kauf dir einen anderen Anzug«, riefen sie im Chor.
    »Ich hab nicht genug Geld.«
    Inukai schien nachzudenken. »Hmmm. Vielleicht kommst du damit durch, weil du ein gaijin bist. Möglicherweise findet jemand den Anzug niedlich ... oder sie halten dich gleich für einen kompletten Idioten.«
    In meinem Beerdigungsanzug schleppte ich mich also am 7. Mai zur ersten Stunde des Seminars, das um 12.50 Uhr in einem eindrucksvollen Raum gleich neben dem
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