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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice
Autoren: Jake Adelstein
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wir stiegen in ein Taxi. In Shinjuku fanden wir ein Café und ließen uns dort in einer Ecke nieder. »Jake«, begann Sekiguchi, »du hast ohnehin mit dem Gedanken gespielt, die Zeitung zu verlassen. Jetzt ist die Zeit eben gekommen. Du bist kein Feigling, wenn du es tust. Du hast keine Trümpfe in der Hand. Die Inagawa-kai, die Sumiyoshi-kai – verglichen mit diesen Leuten sind die wirklich nett. Ich habe keine Ahnung, wie diese Lebertransplantation in den Staaten abgelaufen ist, aber Goto muss gute Gründe haben, wenn er die Geschichte nicht gedruckt sehen will. Was auch immer er angestellt hat, für ihn ist es eine große
Sache. Zieh dich da raus.«
    Dann klopfte Sekiguchi mir auf die Schulter, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Er schaute mir fest in die Augen und wiederholte: »Zieh dich da raus. Aber gib die Story nicht auf, finde heraus, wovor dieser Bastard Angst hat. Das musst du wissen, denn dein Friedensvertrag mit diesem Mann wird nicht von Dauer sein, das garantiere ich dir. Diese Typen vergessen nichts. Du musst es rauskriegen. Andernfalls musst du den Rest deines Lebens Angst haben. Manchmal muss man erst ein Stück zurückweichen, um dann zurückschlagen zu können. Gib nicht auf. Warte ein Jahr – zwei Jahre, wenn es sein muss. Aber finde die Wahrheit heraus. Du bist Journalist, das ist dein Beruf, das ist deine Berufung. Das hat dich an diesen Punkt gebracht. Finde heraus, was er unbedingt verschweigen will. Der Mann hat Angst, darum geht er so auf dich los. Und nur wenn du den Grund dafür kennst, hast du einen Trumpf in der Hand. Nutze ihn gut. Dann hast du eine Chance, wieder das zu tun, was du tun willst. Als man mich zur Verkehrspolizei versetzt hat, weil einer meiner eigenen Leute mich reingelegt hat, damit ich degradiert werde, wollte ich kündigen. Jeden Tag wollte ich kündigen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie man sich als Kripobeamter fühlt, wenn man plötzlich gezwungen ist, Strafzettel zu verteilen, weil irgendein ehrloser Versager anders nicht weiterkommen kann. Aber ich musste an meine Familie denken. Die Entscheidung lag nicht nur bei mir. Also wartete ich ab, ich musste es schlucken, Tag für Tag. Aber die Zeit vergeht, und nach einer
Weile gab es die Gelegenheit, ich konnte meinen Standpunkt darlegen, und jetzt mache ich wieder das, was ich ziemlich gut kann. Und bei dir ist es genauso, Jake. Gib nicht auf.«
    Natürlich hatte Sekiguchi recht. Das war nicht das Ende.
    Aber ich greife voraus.
    Es gab einmal eine Zeit, als ich noch keine Yakuza ärgerte, als ich kein kettenrauchender, ausgebrannter Exreporter mit chronischen Schlafstörungen war. Damals kannte ich weder Sekiguchi noch
Tadamasa Goto und wusste nicht einmal, wie man auf Japanisch
einen anständigen Artikel über Taschendiebe schreibt. Yakuza kannte ich nur aus dem Kino. Damals war ich sicher, dass ich zu den Guten gehörte. Das scheint sehr lange her zu sein.

Das Schicksal ist auf deiner Seite
    Der 12. Juli 1992 war der Wendepunkt, was mein Wissen über Japan anbelangt. Ich war auf meinem Stuhl neben dem Telefon festgeleimt, meine Füße steckten im Minikühlschrank – in der Sommerhitze ist jede Kühlung willkommen –, und ich wartete auf einen Anruf der Yomiuri Shimbun , der angesehensten japanischen Zeitung. Entweder würde ich dort als Reporter anfangen oder arbeitslos bleiben. Es war eine lange Nacht, der Höhepunkt eines Prozesses, der ein ganzes Jahr gedauert hatte.
    Vor Kurzem noch hatte meine Zukunft mich keinen Deut interessiert. Da war ich Student an der Sophia (Joichi) University mitten in Tokio gewesen und hatte ein Diplom in vergleichender Literaturwissenschaft angestrebt und für die Studentenzeitung geschrieben.
    Daher besaß ich zwar etwas Erfahrung in diesem Bereich, war aber nicht wirklich für den Einstieg in einen Beruf qualifiziert. Mein nächster Schritt wäre wahrscheinlich gewesen, Englisch zu unterrichten. Außerdem verdiente ich etwas Geld mit Übersetzungen von Kung-Fu-Videos aus dem Englischen ins Japanische. Und weil ich gelegentlich auch noch reichen japanischen Hausfrauen eine schwedische Massage verabreichte, konnte mein Einkommen die täglichen Ausgaben decken. Meine Eltern mussten allerdings die Unterrichtsgebühren bezahlen.
    Eigentlich hatte ich keine Ahnung, was ich tun wollte. Den meisten meiner Kommilitonen war schon vor ihrem Abschluss ein Job zugesagt worden. Dieses naitei genannte Vorgehen galt zwar als ungehörig, dennoch war es gängige Praxis. Auch ich hatte eine
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