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Tokio Vice

Titel: Tokio Vice
Autoren: Jake Adelstein
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(oder nicht ausgefüllt) hatte, ging wütend an meinen Platz zurück und war überzeugt, den Rest der Prüfung vergessen und nach Hause gehen zu können.
    Ich muss ziemlich fassungslos dagesessen haben, als ein Yomiuri -Mann zu mir kam und mir auf die Schulter klopfte. Er hatte eine Beatlesfrisur, trug eine Metallrandbrille und sprach mit einer heiseren Stimme, die nicht zu seiner Statur und zu seinem Aussehen passte. (Erst nach einiger Zeit erfuhr ich, dass er Endo-san hieß und in der Personalabteilung arbeitete. Er starb einige Jahre später an Kehlkopfkrebs.)
    »Sie sind mir unter den Bewerbern aufgefallen«, meinte er auf Japanisch. »Warum machen Sie diese Prüfung?«
    »Nun ja, ich dachte, dass ich bessere Chancen habe, einen Job bei der englischsprachigen Daily Yomiuri zu bekommen, wenn ich hier gut abschneide.«
    »Ich habe einen Blick auf Ihre Unterlagen geworfen. Bei den ersten Fragen waren Sie richtig gut. Aber was ist dann passiert?«
    »Ich habe dummerweise zu spät bemerkt, dass es auf beiden Seiten Fragen gab.«
    »Ach so. Das werde ich mir notieren.« Er zog einen kleinen Terminplaner aus seiner Jackentasche und kritzelte etwas hinein.
    Dann wandte er sich wieder mir zu. »Vergessen Sie die Daily Yomiuri, das wäre nur Zeitverschwendung. Probieren Sie es bei der richtigen Zeitung. Sie haben immer noch eine gute Chance. Sie sind doch Sophia-Student, nicht wahr?«
    »Ja«, antwortete ich.
    »Dachte ich mir. Halten Sie durch«, meinte er aufmunternd und tätschelte mir dabei die Schulter.
    Da saß ich nun also, und meine Gedanken rasten. Aufgeben und nach Hause gehen oder am Ball bleiben? Schließlich stand ich auf und warf meinen Rucksack über die Schulter. Als ich mich im Raum umsah, hatte ich einen Moment lang den Eindruck, die Zeit sei stehen geblieben. Das Geschnatter war verstummt, die Menschen schienen mitten in ihren Bewegungen erstarrt zu sein, und ich hörte ein schrilles Summen. In diesem Augenblick wusste ich, dass ich vor einer der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens stand.
    Mit einem dumpfen Knall landete mein Rucksack wieder auf dem Tisch. Dann holte ich meine Bleistifte aus der Tasche, schob meinen Stuhl zurecht und bereitete mich auf die zweite Runde vor. Hätte ich mir die Musik für meinen Lebensfilm aussuchen dürfen, wäre meine Wahl damals sofort auf das James-Bond-Thema gefallen. Zugegeben, das Ausrichten der Bleistifte ist keine tolle Eröffnungsszene, aber für mich war es vergleichbar mit einer Heldentat.
    Im nächsten Teil ging es um Fremdsprachen, und ich war schlau genug, Englisch zu wählen. Monatelang hatte ich mich mit Übersetzungen gelangweilt und Kung-Fu-Videos mit Untertiteln versehen. Das sollte sich jetzt auszahlen. Ich musste einen Bericht über die russische freie Marktwirtschaft aus dem Englischen ins Japanische übersetzen und schließlich einen kurzen Text über die soziale Entwicklung in der modernen Gesellschaft aus dem Japanischen ins Englische. Mit beiden Aufgaben war ich vor der nächsten zehnminütigen Pause fertig.
    Dann kam der Aufsatz. Das Thema hieß gaikokujin , also Ausländer, ein Thema, nach dem jeder Ausländer immer wieder gefragt wurde und über das er an der Sophia Aufsätze schreiben musste. Diesmal hatte ich also Glück, und manchmal ist es besser, Glück zu haben, als gut zu sein.
    Wie sich schließlich herausstellen sollte, hatte ich beim Japanischtest zwar schlecht abgeschnitten, war aber dennoch von 100 Bewerbern 19. geworden. Damit war ich im Japanischen besser als zehn Prozent der japanischen Kandidaten. Im Fremdsprachentest wurde ich sowohl bei der englisch-japanischen als auch bei der japanisch-englischen Übersetzung Erster. Bei der englischen Übersetzung hatte ich sogar Punkte verloren, was aber nicht viel darüber aussagte, wie gut ich die englische Sprache beherrschte. Für meinen Aufsatz bekam ich eine Drei, mehr für den Inhalt als für die Grammatik. Insgesamt erhielt ich für die ersten drei Teile der Prüfung 79 von 100 Punkten und kam damit auf den 59. von 100 Plätzen. Das war zwar nicht gerade berauschend, aber ich wurde dennoch zu einem Gespräch eingeladen. Wahrscheinlich lag das auch daran, dass jemand ein Auge zudrückte, weil ich beim Japanischtest die Rückseite des Blattes übersehen hatte.
    Das erste Gespräch drei Wochen später war angenehm kurz. Ich hatte zunächst die Möglichkeit, meinen Patzer zu erklären, dann wurde ich gefragt, was ich von dem Job erwarte und ob ich bereit sei, Überstunden zu
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