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Tödliches Wasser: Roman (German Edition)

Tödliches Wasser: Roman (German Edition)

Titel: Tödliches Wasser: Roman (German Edition)
Autoren: Qiu. Xiaolong
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offensichtlich keine Unbekannte hier. Vielleicht war der Alte ein Verwandter, schließlich hatte sie ihn Onkel Wang genannt.
    Prompt kam der alte Mann mit einem dampfenden Plastikbehälter angeschlurft, den er wohl in der Mikrowelle für sie aufgewärmt hatte. Seit viele Staatsbetriebe im Zuge der Wirtschaftsreform ihre Kantinen wegen mangelnder Rentabilität schlossen, mussten sich Angestellte mittags häufig anderweitig verpflegen.
    Auf einem Bett aus weißem Reis lag ein Omelette mit reichlich Frühlingszwiebeln. Sie holte ihre eigenen Essstäbchen aus der Umhängetasche.
    »Die Frühlingszwiebeln sind aus meinem Gärtchen«, sagte Onkel Wang mit zahnlosem Grinsen. »Hab sie heute Morgen erst geerntet. Völlig organisch.«
    »Organisch« – diesen Begriff hätte Chen, der still sein Bier trank, hier nicht erwartet.
    »Das ist aber lieb von dir, Onkel Wang.«
    Der Alte verzog sich wieder in die Küche und überließ seine Gäste sich selbst.
    Die Frau begann in aller Ruhe zu essen und würzte den Reis mit einem Löffelchen scharfer Sauce, dann versenkte sie sich in die Lektüre einer zerknitterten Zeitung, die sie aus ihrer Tasche holte. Beim Lesen zogen sich ihre schmalen Brauen verärgert zusammen.
    Chen ertappte sich dabei, wie er sie mit Interesse musterte. Sie war attraktiv. Ihr ovales, von langem schwarzem Haar umrahmtes Gesicht strahlte vor jugendlicher Lebhaftigkeit, in den großen, klaren Augen lag ein Ausdruck von Mutwillen. Die Nase war schmal, und wenn sie lächelte, kräuselte sich ihr Mund.
    Auf der Umhängetasche – wenn sie denn ihr gehörte – waren die Schriftzeichen »Chemiefabrik Nr.  1 Wuxi« aufgedruckt. Vermutlich ihre Arbeitsstelle.
    Gelegentlich gefiel er sich in der Rolle des abgeklärten Ästheten, ganz wie in dem Gedicht von Bian Zhilin: Du betrachtest die Szene, / und der Betrachter der Szene betrachtet dich . Bian zählte zu jenen modernen Dichtern, die er an der Universität gelesen hatte. Im realen Leben war der Lyriker ein eher zögerlicher Mensch gewesen, sich selbst schätzte Chen anders ein. Dennoch fand er nichts Anrüchiges daran, sich als Dichter der abgeklärten Betrachtung hinzugeben, und die Rolle des genauen Beobachters passte ja auch zu seiner Identität als Polizist.
    Dann musste er über sich selbst lachen. Ein abgearbeiteter Polizist konnte sich schließlich nicht am ersten Tag seiner Ferien in einen kraftvollen Poeten verwandeln.
    Er hatte es nicht eilig, nachdem er seine Rippchen und die Lotoswurzeln verzehrt hatte. Allerdings erschien es ihm unschicklich, am leeren Tisch sitzen zu bleiben.
    Er stand auf und ging zu den Reisfeldaalen hinüber, die sich in ihrem Bassin schlängelten. Er hockte sich hin und berührte die glitschigen Fische mit dem Finger. Dabei konnte er nicht umhin, auf die wohlgeformten Fesseln der jungen Frau zu schielen.
    »Sind die Aale gut?«, erkundigte er sich laut in Richtung Küche.
    »Fragen Sie ihn lieber, warum er sie in Wasser hält«, flüsterte ihm die Frau zu. Sie hatte sich unerwartet zu ihm herübergebeugt, wobei ihr Haar fast sein Gesicht berührte.
    Sie schien es gut mit ihm zu meinen. Und so folgte er ihrer Aufforderung.
    »Warum halten Sie die Reisfeldaale in Wasser?«
    »Nur meinen Kunden zuliebe«, entgegnete Wang, der aus der Küche gekommen war. »Heutzutage werden die Tiere mit Hormonen und allem Möglichen vollgepumpt. Ich halte sie einen Tag lang in Wasser, damit die Rückstände dieser Medikamente ausgespült werden.«
    Aber wie sollten die Chemikalien auf diese Weise verschwinden? Augenblicklich verlor Chen den Appetit.
    »Dann bringen Sie mir besser eine Portion Stinkenden Tofu«, sagte er. »Mit viel roter Chilisauce.«
    Das hielt er für eine sichere Wahl, doch als er aufblickte, sah er, wie sie lächelnd den Kopf schüttelte.
    Er wollte sie nicht über die Tische hinweg ansprechen, zumal der Alte immer wieder aus der Küche kam. Diese Frau faszinierte ihn. Sie kannte den Restaurantbesitzer offenbar gut, zögerte aber nicht, seine Gerichte zu kritisieren.
    Gleich darauf stellte Onkel Wang eine Platte mit goldbraun frittiertem Tofu in roter Chilisauce vor ihn hin.
    »Tofu aus der Gegend«, erklärte er schlicht, dann ging er in die Küche zurück.
    »Wollen Sie sich nicht dazugesellen, solange der Tofu noch heiß ist?« Chen wandte sich ihr zu und hob die Stäbchen in einer einladenden Geste.
    »Gern«, erwiderte sie und kam, die Wasserflasche in der Hand, an seinen Tisch. »Aber das Angebot mit dem Stinkenden
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