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Tödlicher Applaus

Tödlicher Applaus

Titel: Tödlicher Applaus
Autoren: Øystein Wiik
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aber von einem Tisch in der Mitte winkte ihm jemand zu und signalisierte ihm, dass er sich zu ihm setzen könne. Es war ein junger Mann. Sein Kopf war kahl geschoren, er hatte kräftige, dunkle Augenbrauen und einen muskulösen Nacken. Sein Lächeln entblößte sein Zahnfleisch und seine großen, weißen Zähne, aber es strahlte auch eine unbändige Lebensfreude aus. Besonders auffällig aber waren seine Augen. Sie brannten vor Begierde. Ein Raubtier, dachte Medina.
    »Du kannst dich zu mir setzen«, sagte das Raubtier in gebrochenem Deutsch.
    Medina setzte sich.
    »Victor«, sagte der Mann. »Victor Kamarov. Das bedeutet ›Sieg der Siege‹.«
    »Tut es das?«, fragte Medina.
    »Nein«, antwortete Kamarov. »Aber das sollte es. Und wie heißt du?«
    »James Medina, was wohl so viel bedeutet wie gescheiterter Tenor«, sagte Medina.
    »Mach dich nicht selbst schlecht. Überlass das lieber den anderen«, entgegnete Kamarov und rief: »Herr Ober! Ein Glas Kir Royal für den Herrn Tenor. Nächstes Jahr gibt er sein Debüt an der Wiener Staatsoper!«
    »Gratuliere«, sagte der Kellner, schlug die Hacken zusammen und verschwand, um die Bestellung auszuführen.
    Kamarov strömte einen strengen Geruch aus, und James Medina, der extrem geruchsempfindlich war, kämpfte gegen seine aufsteigende Übelkeit an, so gut es ging. Doch das Unbehagen war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.
    »Ich weiß«, sagte Kamarov. »Ich stinke. Ich habe mich nicht mehr gewaschen, seit ich vor zwei Tagen in den Westen gekommen bin. Ich stinke nach schäbiger Einzimmerwohnung in einer Moskauer Vorstadt, nach russischer Kohlsuppe, hemmungslosem Besäufnis und einem Vater, dessen ganzer Stolz sein Parteibuch war. Ich habe jetzt schon zwei Nächte unter der Johann-Strauss-Statue geschlafen. Ein kaltes Vergnügen. Heute sollte ich unbedingt ein Dach über dem Kopf finden.«
    Er stand auf, kletterte auf seinen Stuhl und klatschte in die Hände.
    »All ihr Mittelmäßigen! Mein Name ist Victor Kamarov! Victor Kamarov, merkt euch diesen Namen! Denn ihr alle werdet eines Tages erleben, was es mit diesem Namen auf sich hat.«
    Er holte eine Art Xylophon und zwei Schlägel hervor, verbeugte sich mit gespieltem Ernst in alle Richtungen und legte los. Hämmerte sich durch Rachmaninovs drittes Klavierkonzert, ein Werk, das jedem Pianisten den Angstschweiß auf die Stirn trieb. Mit zwei Schlägeln und einer begrenzten Anzahl an Tönen zauberte er Licht und Schatten hervor, einen Regenbogen russischer Wehmut, und dann wieder Läufe, die sich anhörten wie Maschinengewehrsalven.
    Die Leute an den anderen Tischen begannen zu lauschen. Der Mann dort, der seinem unscheinbaren Instrument solch wunderbare Töne zu entlocken wusste, war kein gewöhnlicher Straßenmusiker, sondern ein virtuoser Künstler.
    Kamarovs Stirn und sein wohlgeformter Schädel begannen feucht zu glänzen, dann folgte ein Wolkenbruch aus Schweißperlen, und binnen Sekunden war sein billiges Nylonhemd komplett durchgeschwitzt. Es klebte an seiner Haut, sodass man seine Muskeln zittern sah. Er spielte nicht, nein, er attackierte das Xylophon mit unfassbarer Lebenskraft. Als der letzte Lauf gespielt war, hatten die Gäste des Café Landtmann das Gefühl, einen Ritt auf Leben und Tod miterlebt zu haben.
    Kamarov verbeugte sich und streckte die Arme in Siegerpose in die Höhe. Dann sprang er vom Stuhl auf, schnappte einem älteren Herrn den Tirolerhut vom Kopf und hielt ihn, geschmeidig zwischen den Tischen hindurchlaufend, den Gästen hin. Sie legten dem verschwitzten Virtuosen bereitwillig Scheine in den Hut, woraufhin dieser den Kopf in den Nacken warf, sein Zahnfleisch zeigte und ihnen ein lautstarkes »Vielen Dank!« entgegenschleuderte. Dann nahm er das Geld mit der linken Hand heraus, gab dem älteren Herrn den Hut zurück und begann seine Einnahmen zu zählen. 1 120 Schilling.
    »Was für eine erfolgreiche Geschäftstaktik«, sagte Kamarov. »Lass uns das Geld nehmen und abhauen.« Er lachte herzlich, als habe er einen Witz gemacht.
    »Und der Kir Royal?«, fragte Medina.
    »Vergiss ihn, wir kaufen uns unterwegs eine Flasche Champagner«, sagte Kamarov. »Von jetzt ab betrinken wir uns nur noch mit edlen Tropfen.« Er hob seine Stimme: »Lass uns die Welt erobern!«, brüllte er. »Aber vorher müssen wir noch in die Koppstraße und uns eine Wohnung ansehen.«
     

Ein Paar Lackstiefel
    Sie gingen zügig die Josephstädterstraße hoch und bogen links in den Lerchenfelder Gürtel ein, der
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