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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai
Autoren: Lisa See
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die Künstler, Revolutionäre und die Ausländer, die wir in den letzten Jahren kennengelernt haben.
    »Wollt ihr gar nicht wissen, was ich heute gemacht habe?«, fragt May. Ihre Stimme klingt so leicht und luftig wie Vogelschwingen im Flug.
    Damit verschwinde ich aus dem Gesichtskreis meiner Eltern. Ich bin zwar die ältere Schwester, aber in vielerlei Hinsicht kümmert sich May um mich.
    »Erst hab ich mir im Metropol einen Film angeschaut, dann bin ich in die Avenue Joffre gegangen, um Schuhe zu kaufen«, fährt sie fort. »Von dort war es nicht weit zu Madame Garnets Laden im Cathay Hotel, wo ich mein neues Kleid abholen wollte.«
May hört sich jetzt ein bisschen vorwurfsvoll an. »Sie hat gesagt, sie gibt es mir erst, wenn du vorbeikommst.«
    »Kein Mädchen braucht jede Woche ein neues Kleid«, sagt Mama sanft. »Da könntest du dir ausnahmsweise ein Beispiel an deiner Schwester nehmen. Ein Drache braucht keine Rüschen, Spitze und Schleifchen. Für so etwas ist Pearl viel zu praktisch veranlagt.«
    »Baba kann es sich aber leisten«, gibt May zurück.
    Mein Vater presst die Lippen zusammen. Hat May etwas Falsches gesagt, oder will er mich gleich wieder kritisieren? Er öffnet den Mund, aber meine Schwester schneidet ihm das Wort ab.
    »Wir haben jetzt den siebten Monat, und die Hitze ist schon unerträglich. Wann schickst du uns nach Kuling, Baba? Du willst doch nicht, dass Mama und ich krank werden, oder? Wenn der Sommer kommt, ist es in der Stadt nicht mehr auszuhalten. Um diese Jahreszeit sind wir in den Bergen viel glücklicher.«
    May hat es taktvoll unterlassen, meinen Namen zu erwähnen. Von mir ist besser erst später die Rede. Aber eigentlich will sie mit ihrem ganzen Geplapper nur unsere Eltern ablenken. Meine Schwester sieht zu mir herüber, nickt beinahe unmerklich und steht schnell auf.
    »Komm, Pearl! Machen wir uns fertig!«
    Ich schiebe den Stuhl zurück und bin froh, dass mir die Kritik meines Vaters erspart wurde.
    »Nein!« Baba schlägt mit der Faust auf den Tisch. Das Geschirr klappert. Mama fährt vor Schreck zusammen. Ich erstarre. Die Leute in unserer Straße bewundern meinen Vater für seinen Geschäftssinn. Er hat den Traum wahr gemacht, den jeder gebürtige Shanghaier hat, und auch jeder Shanghailänder - das sind die Ausländer, die aus der ganzen Welt hierhergekommen sind, um ihr Glück zu machen. Er hat mit nichts angefangen und aus sich und seiner Familie etwas gemacht. Vor meiner Geburt führte er ein Rikschaunternehmen in Kanton, nicht als Betreiber, sondern als Subunternehmer. Er mietete Rikschas für siebzig Cent
pro Tag, vermietete sie dann an einen kleineren Subunternehmer für neunzig Cent weiter, der sie wiederum für einen Dollar am Tag an die Rikschafahrer verlieh. Nachdem Vater genügend Geld beisammenhatte, zog er mit uns nach Shanghai und gründete sein eigenes Rikschaunternehmen. »Günstigere Gelegenheiten«, betont er gerne - und mit ihm wahrscheinlich eine Million weitere Bewohner der Stadt. Baba hat uns nie erzählt, wie er so wohlhabend geworden ist oder wie er an diese Gelegenheiten gekommen ist, und ich habe nicht den Mut, ihn danach zu fragen. Man ist sich - sogar innerhalb der Familie - einig, besser nicht nach der Vergangenheit zu fragen, denn jeder ist nach Shanghai gekommen, um vor etwas zu fliehen oder etwas zu verbergen.
    May ist das alles egal. Ich schaue sie an und weiß genau, was sie sagen will: Ich will mir nicht anhören, dass dir unsere Frisuren nicht gefallen. Ich will mir nicht anhören, dass wir die Arme nicht entblößen oder zu viel Bein zeigen sollen. Nein, wir wollen keine »normalen Vollzeitbeschäftigungen«. Du bist vielleicht mein Vater, aber trotz des ganzen Getöses, das du veranstaltest, bist du ein schwacher Mann, und ich will dir nicht zuhören. Stattdessen neigt sie nur den Kopf und blickt in einer Art auf meinen Vater herab, die ihn völlig hilflos macht. Diesen Trick beherrschte sie schon als Kleinkind und perfektionierte ihn im Laufe der Jahre. Ihre Unbekümmertheit, ihre Unbefangenheit lässt jeden dahinschmelzen. May verzieht den Mund zu einem kleinen Lächeln. Sie tätschelt Vater die Schulter, und sein Blick fällt auf ihre Fingernägel, die, genau wie meine, durch das mehrmalige Auftragen von Springkrautsaft rot gefärbt sind. Berührungen sind - sogar innerhalb der Familie - nicht gänzlich tabu, üblich sind sie jedoch keinesfalls. In einer guten, anständigen Familie gibt es keine Küsse, keine Umarmungen, keine
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