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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai
Autoren: Lisa See
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gar nicht auf so etwas einlassen. »Entspann dich ein bisschen«, weist er sie an, »als wärst du die ganze Nacht unterwegs gewesen und würdest deiner Freundin gleich ein Geheimnis anvertrauen.«
    Nachdem er May entsprechend positioniert hat, ruft er mich herbei. Er legt mir die Hände auf die Hüften und dreht mich zurecht, bis ich auf der Rückenlehne von Mays Sessel hocke.
    »Du hast so schöne lange Arme und Beine«, sagt er und zieht meinen Arm nach vorne, sodass ich mich mit der Hand abstützen muss, um mich über May zu halten. Er legt die Hand auf meine, spreizt meinen kleinen Finger ab. Einen Moment lässt er die Hand dort ruhen, dann weicht er zurück und betrachtet seine Komposition. Zufrieden gibt er uns nun Zigaretten. »Und jetzt beugst du dich zu May hin, Pearl, als hättest du dir gerade die Zigarette an ihrer angezündet.«
    Ich tue, was er mir aufträgt. Er tritt ein letztes Mal nach vorne, um May eine Strähne von der Wange zu streichen und ihr das
Kinn so zurechtzurücken, dass das Licht auf ihren Wangenknochen tanzt. Ich mag zwar diejenige sein, die Z. G. gerne malt und berührt - und das fühlt sich wirklich verboten an -, aber es ist Mays Gesicht, mit dem sich alles verkaufen lässt: von Zündhölzern bis hin zu Vergasern.
    Z. G. tritt hinter seine Staffelei. Er hat es nicht gerne, wenn wir sprechen oder uns bewegen, während er malt, doch er unterhält uns, stellt das Grammophon an und plaudert über dieses und jenes.
    »Sind wir hier, um Geld zu verdienen oder um uns zu amüsieren, Pearl?« Er wartet nicht auf meine Antwort. Er will keine. »Schadet das, was wir tun, unserem Ruf oder tut es ihm gut? Ich behaupte: weder noch. Wir machen etwas anderes. Shanghai ist das Zentrum von Schönheit und Modernität. Ein wohlhabender Chinese kann sich alles leisten, was er auf unseren Kalendern sieht. Wer weniger Geld hat, kann danach streben, diese Dinge eines Tages zu besitzen. Und die Armen? Die können nur davon träumen.«
    »Lu Hsün ist da anderer Meinung«, sagt May.
    Ich seufze ungeduldig. Jedermann bewundert Lu Hsün, den großen Schriftsteller, der letztes Jahr gestorben ist, aber das heißt noch lange nicht, dass May während unserer Sitzung über ihn reden sollte. Ich sage nichts dazu und halte die Pose.
    »Er wollte ein modernes China«, fährt May fort. »Er wollte, dass wir uns von den lo fan und ihrem Einfluss befreien. Auch die Kalendermädchen hat er mit kritischen Augen gesehen.«
    »Sicher, sicher«, antwortet Z. G. ruhig, aber ich bin überrascht, was meine Schwester alles weiß. Sie liest nicht, hat das noch nie getan. Offenbar will sie bei Z. G. Eindruck schinden, und es funktioniert. »Ich war an dem Abend dabei, als er diese Rede gehalten hat. Du hättest gelacht, May. Und du genauso, Pearl. Er hat einen Kalender hochgehalten, auf dem zufällig ihr beide abgebildet wart.«
    »Welchen?«, frage ich nun doch.

    »Ich habe das Bild nicht gemalt, aber ihr beide tanzt einen Tango darauf. Pearl, du hältst May im Arm, die sich nach hinten biegt. Es war sehr...«
    »Daran kann ich mich erinnern! Mama hat sich wahnsinnig aufgeregt, als sie es gesehen hat. Weißt du noch, Pearl?«
    Und ob ich das weiß. Mama bekam den Kalender in dem Laden an der Nanking Road, wo sie immer Binden für den monatlichen Besuch der kleinen roten Schwester kauft. Sie weinte, tobte und brüllte, dass wir die Familie Chin beschämen würden, wenn wir so aussähen und uns so benähmen wie weißrussische Taxidancer. Wir versuchten zu erklären, dass die Kalender mit den Mädchen in Wirklichkeit Respekt gegenüber den Eltern und traditionelle Werte vermitteln. Sie werden zum chinesischen und zum westlichen Neujahr verschenkt, als Anreiz, als Werbung oder als kleine Aufmerksamkeit für besondere Kunden. Von den guten Häusern finden sie dann langsam ihren Weg zu den Straßenhändlern, die sie für ein paar Kupfermünzen an die Armen verkaufen. Wir haben Mama erzählt, ein Kalender sei das Wichtigste im Leben jedes Chinesen, obwohl wir das selbst nicht glaubten. Ob reich oder arm, die Menschen richten ihr Leben nach der Sonne, dem Mond und den Sternen aus, und in Shanghai dazu noch nach dem Wasserstand des Whangpoo. Sie weigern sich, ein Geschäft abzuschließen, den Termin für eine Hochzeit festzulegen oder ein Feld zu bepflanzen, ohne nach den Prinzipien des feng shui zu prüfen, ob der Zeitpunkt auch günstig ist. Diese Hinweise stehen bei den meisten Werbekalendern am Rand, daher dienen sie als Ratgeber für
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