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Toechter Aus Shanghai

Titel: Toechter Aus Shanghai
Autoren: Lisa See
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alles, was im kommenden Jahr Glück bringen mag, und was für Gefahren drohen könnten. Gleichzeitig sind sie ein preiswerter Wandschmuck für die ärmsten Häuser.
    »Unsere Kalender verschönern den Leuten das Leben«, erklärte May. »Daher nennt man uns Kalendermädchen.« Aber Mama beruhigte sich erst, nachdem May sie darauf hingewiesen hatte, dass mit dem Bild für Lebertran geworben würde. »Wir
halten die Kinder bei guter Gesundheit«, sagte May. »Du solltest stolz auf uns sein!«
    Am Ende hängte Mama den Kalender in der Küche neben dem Telefon auf, um sich die wichtigen Nummern - die des Sojamilchverkäufers, des Elektrikers und die von Madame Garnet - sowie die Geburtsdaten aller unserer Dienstboten auf unsere entblößten, bleichen Arme und Beine zu schreiben. Nach diesem Vorfall überlegten wir es uns zweimal, welche Bilder wir mit nach Hause brachten, und hatten Sorge, welche sie wohl von einem der Händler in der Nachbarschaft geschenkt bekäme.
    »Lu Hsün hat gesagt, solche Kalender sind verderbt und anstö ßig«, fährt May fort. Beim Sprechen bewegt sie die Lippen kaum, damit sie weiter lächeln kann. »Er hat gesagt, die Frauen, die dafür Modell sitzen, seien krank. Und dass diese Krankheit nicht von der Gesellschaft kommt...«
    »Sondern von den Malern«, beendet Z. G. den Satz für sie. »Er findet es dekadent, was wir tun, und behauptet, es würde die Revolution nicht voranbringen. Aber sag mir doch, kleine May, wie soll die Revolution ohne uns stattfinden? Antworte nicht! Sitz einfach da und sei still! Sonst brauchen wir noch die ganze Nacht.«
    Ich bin dankbar für die Stille. In der Zeit vor der Republik wäre ich schon längst in einer rot lackierten Sänfte in das Haus meines Mannes gebracht worden. Mittlerweile hätte ich mehrere Kinder zur Welt gebracht, hoffentlich Söhne. Aber ich wurde 1916 geboren, im vierten Jahr der Republik. Das Füßebinden wurde verboten, und das Leben der Frauen änderte sich. Arrangierte Ehen werden nun in Shanghai als rückständig betrachtet. Alle wollen aus Liebe heiraten. Und bevor es so weit ist, glauben wir an die freie Liebe. Nicht, dass ich sie reichlich verschenkt hätte. Ich habe sie noch gar nicht verschenkt, aber ich würde es tun, wenn Z. G. mich darum bäte.
    Er hat mich so hingesetzt, dass sich mein Gesicht im schrägen Winkel zu dem von May befindet, aber ich soll ihn dabei ansehen.
Ich halte die Pose, schaue zu ihm hinüber und träume von unserer gemeinsamen Zukunft. Freie Liebe hin oder her - ich möchte, dass wir heiraten. Jede Nacht, in der Z. G. malt, muss ich an die prächtigen Feste denken, zu denen ich eingeladen war, und stelle mir die Hochzeit vor, die mein Vater für Z. G. und mich ausrichten wird.
    Kurz vor zehn hören wir den Ruf des Wan-Tan-Suppenverkäufers: »Warme Suppe! Sie bringt euch ins Schwitzen! Kühlt die Haut, kühlt die Nacht!«
    Z. G. lässt seinen Pinsel in der Luft verharren und tut so, als überlegte er, wo er als Nächstes Farbe auftragen soll. In Wirklichkeit ist er gespannt, wer von uns zuerst seine Pose aufgibt.
    Als der Wan-Tan-Mann direkt unter dem Fenster steht, springt May auf und kreischt: »Ich halt’s nicht mehr aus!« Sie eilt zum Fenster und ruft unsere übliche Bestellung nach unten. Dann lässt sie eine Schüssel an einem Seil hinunter, das wir aus mehreren Seidenstrümpfen zusammengeknotet haben. Der Wan-Tan-Mann schickt uns eine Schüssel nach der anderen herauf, und wir essen voller Appetit. Danach nehmen wir wieder unsere Plätze ein und machen uns an die Arbeit.
    Kurz nach Mitternacht legt Z. G. den Pinsel zur Seite. »Für heute sind wir fertig«, sagt er. »Ich arbeite bis zur nächsten Sitzung am Hintergrund weiter. Gehen wir!«
    Während er in einen Nadelstreifenanzug schlüpft, sich die Krawatte bindet und den Filzhut aufsetzt, müssen May und ich uns erst einmal dehnen, weil wir ganz steif geworden sind. Wir frischen unser Make-up auf und kämmen uns die Haare. Und dann sind wir draußen auf der Straße, haken uns alle drei unter und laufen lachend die Straße entlang, auf der die Verkäufer ihre Leckereien anpreisen.
    »Glühend heiße Ginkgonüsse! Alle schon geknackt! Riesengroß!«
    »Schmorpflaumen mit Süßholzpulver! Eine Köstlichkeit! Nur zehn Kupfermünzen pro Packung!«

    Fast an jeder Ecke stehen Wassermelonenverkäufer. Jeder hat einen eigenen, charakteristischen Ruf und verspricht die beste, süßeste, saftigste, kälteste Melone der ganzen Stadt. So verlockend sie
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