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Todeszeiten (German Edition)

Todeszeiten (German Edition)

Titel: Todeszeiten (German Edition)
Autoren: David Baldacci
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War da nicht das Gezische wie von einer Dampflok zu hören? Aber warum sollte dieser Zug solch ein Geräusch machen?
    Als er aus dem Zug stieg, stand er völlig regungslos auf dem Bahnsteig. Die Leute, die an ihm vorbeigingen, sahen normal aus – mit Ausnahme ihrer Kleidung. Er sah Fliegen und Anzüge mit breiten Aufschlägen. Alle Männer trugen Hüte – Bowler und flache Strohhüte mit Krempe -, und ein älterer Herr hatte sogar einen Zylinder auf! Die Damen waren in weite, gefaltete Röcke gekleidet, die bis unter das Knie reichten, hatten stark zugespitzte Hüte und niedliche Schuhe mit dicken Absätzen von bescheidener Höhe. Die Kinder waren ebenfalls förmlich gekleidet. Ein spindeldürrer Junge wirbelte ein hölzernes Jo-Jo herum.
    Er steuerte auf einen Stand zu und kaufte eine Zeitung. Als er dem Mann einen Dollar reichte, erhielt er neunzig Cent zurück. Becker starrte hinunter zu den Münzen auf seiner Handfläche. Aus irgendeinem Grund sahen die Münzen merkwürdig aus, doch Becker schob sie in seine Tasche und vergaß sie, als er die bestürzende Schlagzeile las.
    Nordkorea war gerade in Südkorea einmarschiert. Als er weiterlas, wurde seine Haut blasser, und eine Ader an seiner linken Schläfe pochte mit rasender Geschwindigkeit. Präsident Harry S. Truman verurteilte diese ungerechtfertigte Invasion und sicherte der südkoreanischen Regierung Unterstützung zu. Becker warf einen Blick auf das Datum.
    »1950?«
    Er senkte die Zeitung und starrte argwöhnisch um sich herum. Auf der Straße fuhren in beiden Richtungen altmodische Autos vorbei. Als er zum Zug hinübersah, aus dem er gerade ausgestiegen war, bemerkte er, dass der Hochgeschwindigkeitszug, den er zuvor bestiegen hatte, sich inzwischen in eines der Dieselmodelle verwandelt hatte, die schon vor langer Zeit in Eisenbahnmuseen verbannt worden waren.
    Herausfordernd? Dies musste es sein, worauf sich der alte Mann bei seinem Ersuchen bezogen hatte. Der Job selbst klang einfach. Doch wie würde Becker nach Hause zurückkehren – in seine eigene Zeit? Wie war er überhaupt erst hierhergekommen? Er dachte an die Fahrt zurück. Er erinnerte sich an den langen Tunnel und wie der Zug allmählich in die Dunkelheit eintauchte. Wie er in jenem Augenblick eingeschlafen war. Normalerweise war er kurz vor einem Job immer aufgekratzt und energiegeladen. Frank Becker hatte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens damit zugebracht, stets strenge Disziplin und intensive Selbstkontrolle aufrechtzuerhalten. Er packte seine umherschweifenden Nerven, atmete tief ein und warf die Zeitung in einen Mülleimer. Er fingerte an dem Messer in seiner Tasche herum. Er hatte seine Anweisungen, und er hatte die Hälfte seines Honorars erhalten. Er würde den Job erledigen und dann herausfinden, wie er zurückkehren konnte. Er war ein Profi. Vielleicht würde es ja so einfach sein wie bei der Reise hierher – wieder in den Zug einsteigen, durch den Tunnel zurückfahren und einschlafen.
    Einschlafen! Schlief er vielleicht gerade? Träumte er? Becker wusste nicht, was er sonst machen sollte – also zwickte er sich selbst und zuckte bei dem Schmerz zusammen. Er träumte nicht. Er befand sich fünfzig Jahre zurück in der Vergangenheit. Er riss sich zusammen, straffte seine Schultern und ging aus dem Bahnhof hinaus.
    Es war eine kleine Stadt – eher ein Dorf -, mit einem Metzger, Bäcker, Läden, Restaurants, einer Kneipe und einer Kirche an der Hauptstraße. Während Becker weiterging, bemerkte er, wie das Sträßchen, das er entlangging, immer unbelebter und ruhiger wurde. Alles, was er hörte, waren der Wind und ein paar Vögel. Becker hatte sich den Inhalt des Briefes von seinem Klienten ins Gedächtnis eingeprägt und den Brief anschließend verbrannt. Wenn die Sache schiefging, würde niemand irgendeinen Beweis finden, der ihn belasten könnte.
    Die Frau, nach der er Ausschau hielt, hatte auch Gewohnheiten, so wie jener erfolgreiche Geschäftsmann aus der Großstadt. Da heute Donnerstag war, würde sie in ihrem Cottage sein, das eine halbe Meile entfernt war. Donnerstags putzte sie das Cottage und bereitete danach eine einfache Mahlzeit für ihren Ehemann zu, der exakt um sechs von der Arbeit in der Stadt nach Hause kam. Becker sah auf seine Uhr. Sie lief immer noch, obwohl es jetzt augenscheinlich fünf Jahrzehnte früher war als am heutigen Morgen. Er hatte noch vier Stunden. Mehr als genug Zeit. Das Ehepaar hatte keine Kinder, wie dem Brief zu entnehmen war. Sie würde
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