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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist
Autoren: Andreas Gruber
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Sabine lief den breiten Mittelgang entlang zum Altar. Ihre Schritte hallten über den Marmorboden. Wie sollte sie in den zahlreichen Kapellen, dem Chorraum, der Sakristei und der Krypta ihre Kollegen finden? Da flackerte ein Blitzlicht hinter ihr auf, und sie fuhr herum. Über dem Rundbogen des Hauptportals lag die Westempore wie ein breiter Balkon. Darauf befanden sich die hoch aufragenden Silberpfeifen
der Hauptorgel. Ein weiteres Blitzlicht flammte auf. Ihre Kollegen standen um die Orgel herum. Sabine suchte nach der Treppe, die zur Empore führte.
    Simon und Wallner hatten Dienst. Etwas abseits warteten ein Priester in einer schwarzen Soutane und ein alter, glatzköpfiger Mann mit Strickweste und grauer Bundfaltenhose. Aufgeregt rang der Greis, der wohl der Mesner sein musste, die gichtkranken Hände. Obwohl sich sonst niemand hier oben befand, war der Bereich abgesperrt. Zwei Scheinwerfer erhellten das Podium. In einer Wölbung unter den Orgelpfeifen standen die Stühle für den Chor auf den Stufen. Dort hatte Wallner den Inhalt seines Koffers ausgebreitet. Schon damals, als Sabine beim Dauerdienst begonnen hatte, war er ein Urgestein der Münchner Kripo gewesen. Auf einem Sessel lag seine Checkliste. An der Anzahl der Häkchen erkannte Sabine, dass er gerade erst mit der Arbeit begonnen hatte. Wie immer hatte er seine grauen Haare quer über den Kopf gekämmt, um die Halbglatze zu verdecken. Es war vergebliche Liebesmüh. In ein paar Jahren würden sie so dünn wie Seidenpapier sein, und dann sähe es lächerlich aus. Allerdings war er ein pfundiger Kerl und netter Kollege.
    »Hallo, Bine.« Wallner blickte kurz hoch und strich mit dem Pinsel weißes Pulver auf die Sessellehnen. Aussichtslos. Er würde Dutzende verschiedene Fingerabdrücke und doppelt so viele Fragmente finden.
    Simon, der Jüngere der beiden, sah ebenfalls kurz auf. »Hat Kolonowicz dich hergeschickt?«
    Sie gab keine Antwort. Simon war Mitte dreißig, etwa zehn Jahre beim Dauerdienst und Wallners Partner, so lange sie zurückdenken konnte. Er sah als Einziger von ihren Kollegen wirklich gut aus. Früher waren sie öfter nach Dienstschluss in das Irish Pub am Beethovenplatz gegangen und zweimal danach zu ihr in die Wohnung. Sie wusste, es war nicht die große Liebe, trotzdem hatte sie sich anbaggern lassen. Doch dann hatte er plötzlich eine andere geheiratet. Natürlich hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Sie hatte
nicht gewusst, was in seinem Kopf vorgegangen war, und auch nie gefragt.
    Simon beugte sich über eine Leiche, die unter dem Spieltisch der Orgel lag. Nur die Beine ragten hervor. Die Frau trug einen cremefarbenen Rock, aber weder Schuhe noch Strümpfe. Ihre nackten Füße waren an die metallenen Beine des Spieltisches gekettet.
    »Wer ist die Tote?«, fragte Sabine.
    Simon schaltete das Diktiergerät aus. »Sie hat keinen Ausweis bei sich. Bisher wissen wir nur, dass sie nicht in der Kirche gearbeitet hat.«
    »Soll ich in Überzieher schlüpfen?«
    »Nicht nötig.« Simon blickte kurz hoch. »Aber wenn du näher kommst, pass auf, dass du nicht in die Tinte trittst.«
    Tinte! Erst jetzt sah sie die schwarzen Spritzer auf dem Boden. Sie dachte an das Tintenfass, das ihr Vater erwähnt hatte. Ihre Brust zog sich zusammen, und plötzlich hatte sie das Gefühl, ihr Herz würde zerspringen.
    »Was ist passiert?«, krächzte sie.
    »Ich habe gerade die Bänke im Seitentrakt gereinigt«, brummte der Hausmeister hinter ihr. »Plötzlich hörte ich Orgelspiel. Ich holte den Pfarrer, und als wir nach oben liefen, verstummte das Spiel. Niemand war da. Nur die tote Frau.«
    Sabine kam näher. Das Manual der monströsen Orgel ähnelte einem Cockpit. Tastaturen auf vier übereinander liegenden Ebenen sowie zwei halbrunde Seitenteile mit zahlreichen Knöpfen und Schaltern. Die Sitzbank war zur Seite geschoben. Die Leiche lag auf dem Rücken. Auch die Hände waren an die Tischbeine gekettet. Die Tote trug eine moderne violette Bluse. Sabine kannte das Kleidungsstück. Sie kniete nieder, um einen Blick auf das Gesicht der Frau zu werfen.
    »Ein Blick reicht, um zu sehen, dass das kein gewöhnlicher Mord ist.« Wallner machte eine Pause. »Viel eher eine Hinrichtung, die …«

    Mehr hörte Sabine nicht. Sie starrte in die vor Schreck geweiteten Augen ihrer Mutter. Das Gesicht war gespenstisch bleich. Aus dem Mund ragte ein daumendicker Schlauch, an dessen Ende ein Trichter hing. Daneben stand ein schwarzer Kanister. Ihre Mutter lag leblos auf dem
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