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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist
Autoren: Andreas Gruber
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kalten Boden. Dieselbe dumpfe Kälte senkte sich um Sabine. Das durfte nicht sein! Wie war es möglich, dass ihre Mutter hier lag? Seltsamerweise ging ihr nur ein einziger Gedanke durch den Kopf: Kerstin, Connie und Fiona! Wie sollte sie ihnen beibringen, dass ihre Großmutter hier lag und Simon Fotos von ihrem Gesicht schoss?
    Sabine konnte den Blick nicht vom Antlitz ihrer Mutter nehmen. Ihr wurde schwindelig. Die Kälte des Doms und der Geruch von Wachs und Weihrauch drehten sich in immer schnelleren Kreisen um sie. Sie stützte sich mit der Hand auf dem Boden ab. Sie wollte, dass ihre Mutter sich bewegte, die Augenlider schloss, wiederöffnete und sich aufsetzte. Steh auf! Unwillkürlich hielt Sabine den Atem an. Sie konnte nicht Luft holen. Sie würgte, schmeckte Magensäure im Mund und salzige Tränen auf den Lippen.
    Der Priester stand überraschend neben ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Was ist mit Ihnen? Kennen Sie diese Frau?«
    Wallner und Simon kamen näher.
    »Bine!«
    Die Pupillen ihrer Mutter! So glasklar und noch nicht getrübt. Irgendetwas stimmte mit dem Gesicht nicht – etwas war anders. Ungewöhnlich. Aber sie kam nicht darauf. Sie wusste nur, dass sie achtundvierzig Stunden Zeit gehabt hätte, sie lebend zu finden.
    Jemand wollte sie von ihrer Mutter wegziehen.
    Plötzlich schrie sie. »Nein, nein, nein  …«

3
    Sabine saß nachts in ihrem Büro bei einer Tasse heißen Kaffee. Nichts hätte sie darauf vorbereiten können, ihre Mutter einmal so vorfinden zu müssen – weder die Zeit an der Polizeischule noch die Einsätze beim Kriminaldauerdienst. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – fragte sie sich, ob ihre Kollegen den Mörder je finden würden. Vielleicht wurde der Mord an ihrer Mutter nie aufgeklärt.
    Im Moment beschäftigte sie sich mit Dingen, die vollkommen irrelevant waren, doch sie wollte sich ablenken, und so liefen ihre Gedanken wie ein Hamster im Rad. Apathisch dachte sie an die Testamentseröffnung und die Vorbereitung der Beerdigung. Sollte Mutter in Köln oder München bestattet werden? Sabine und ihre Schwester waren in Bayern auf Großmutters Bauernhof aufgewachsen und nur wegen Vaters Job als Restaurator alter Eisenbahnen nach Köln gezogen. Dort hatte Mutter zunächst als Lehrerin und später als Direktorin unterrichtet. Aber im Grunde ihres Herzens war sie immer Bayerin geblieben … bis zu ihrem Tod. Tränen stiegen Sabine in die Augen.
    Monika würde zusammenbrechen, wenn sie von Mutters Tod erfuhr. Wie sollten sie Kerstin, Connie und Fiona beibringen, dass ihre Oma nicht mehr zu Besuch kommen würde? Es hatte keinen Sinn, die Sache länger rauszuzögern. Sie wählte Monikas Nummer. An deren Stimme erkannte sie, dass sie noch nicht geschlafen hatte. Sabine erzählte ihrer Schwester, was sich ereignet hatte.
    »Ermordet?«, rief Monika beinahe hysterisch.
    »Ja. Soll ich vorbeikommen?«
    »Nein …« Monika brach in Tränen aus. »Du hast sicher jede Menge zu tun.«

    »Vor allem muss ich nach Vater sehen.«
    »Er ist hier?«
    Sabine erzählte den Rest der Geschichte und hasste sich dafür, die Überbringerin der Hiobsbotschaft zu sein. »Versuch zu schlafen«, sagte sie schließlich und legte auf.
    Lange Zeit starrte sie auf den Telefonhörer. Ihr Vater saß am Ende des Korridors im Warteraum. Wallner hatte sie nach ihrem Zusammenbruch mit dem Dienstfahrzeug aufs Revier gebracht und ihr ein Beruhigungsmittel angeboten, das sie aber nicht genommen hatte. Währenddessen hatte ein Streifenbeamter ihren Vater ins Präsidium gebracht. Sabine wusste, dass ihn die Nachricht vom Tod seiner Exfrau genauso hart getroffen hatte wie sie. Aber im Moment war ihr das egal. Sie konnte immer noch nicht fassen, dass er achtundvierzig Stunden lang nichts von der Entführung gesagt hatte. Du hättest mich anrufen müssen! Sie ließ ihn absichtlich allein im Warteraum schmoren, da sie nicht wusste, wie sie reagieren würde, wenn sie ihn sah. Jedenfalls hätte sie gute Lust, auf ihn einzuschlagen … achtundvierzig Stunden lang.
    Sie stand auf und blickte zur Wanduhr. 23.05 Uhr. Die Nachricht vom Mord im Dom würde frühestens am Morgen im Radio zu hören und erst in der Abendausgabe der Zeitung zu lesen sein.
    Im Warteraum roch es nach frischem Kaffee, doch ihr Vater hatte die Tasse nicht angerührt. Im Mülleimer lagen einige Taschentücher. Er saß mit rot geäderten Augen auf der Holzbank und starrte an die Wand. Seine Finger trommelten auf der Armlehne.
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