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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist
Autoren: Andreas Gruber
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den Bürgersteig. Sabines Brust wurde eng, als Simon und sie, jeweils mit einem schweren Koffer bepackt, das Eisengatter aufschoben und zum Haustor gingen. Alles war wie bei einem üblichen Tatorteinsatz – trotzdem kam es ihr so vor, als besuchte sie ihre Mutter. Der Weg war so vertraut. Die Mülleimer in der Nische, das rostige Fahrrad unter dem Dachvorsprung, die Namensschilder an der Gegensprechanlage. Sabine drückte gegen die Tür, die sich mit einem Schnappen öffnete.
    Simon folgte ihr durch das Treppenhaus ins Dachgeschoss. Der abgestandene Geruch von Frittieröl hing in der Luft. Aus einer Wohnung drangen die gedämpften Geräusche eines Fernsehgeräts. Morgen früh würde Simon die Hausbewohner befragen müssen, von denen Sabine die meisten persönlich kannte.
    Mutters Wohnung lag als einzige im obersten Stockwerk. Der Rest des Dachstuhls war unverbaut. Im Sommer hingen hier oft Kleider an Wäscheleinen. Aufgrund der zahlreichen Dachschrägen waren die meisten Schränke, Kommoden und Regalsysteme in Mutters Wohnung maßgefertigt – bezahlt von Vaters Unterhalt nach der Scheidung. Denk nicht an deine Eltern! Für diese Nacht ist es ein Tatort wie jeder andere.
    »Alles okay?«, fragte Simon.
    »Ja.« Sabine hatte noch gar nicht richtig realisiert, dass ihre Mutter nicht mehr lebte. Bestimmt würden diese Gefühle später in geballter Form kommen. Im Moment jedenfalls wollte sie sich wie in Trance in die Ermittlung stürzen.
    »Was hast du bei der Orgel sicherstellen können?«, fragte sie.

    Simon keuchte neben ihr die Treppe hinauf. »Keine Fingerabdrücke an Eimer, Schlauch, Trichter oder Ketten. Ich bin sicher, der Mörder hat auch an der Orgel und der aufgebrochenen Pforte keine hinterlassen.«
    »Möglicherweise an der Leiche.«
    »Bine, du weißt, was ein Verdampfungsverfahren kostet, und dass wir bisher so gut wie nie Abdrücke auf der Haut gefunden haben.«
    »Aber wir könnten es versuchen.«
    »Sprich mit dem Gerichtsmediziner«, schlug Simon vor. »Die Leiche ist auf dem Weg in die Pathologie. Doktor Hirnschall hat Nachtdienst.«
    Oh Gott! Dieser alte Knauser würde nie ein Verdampfungsverfahren machen, nicht einmal wenn seine eigene Mutter auf dem Autopsietisch läge. Er hinkte mit der Arbeit immer tagelang hinterher. Die Kollegen von der Mordgruppe warteten seit einer Woche auf den Obduktionsbefund von drei tschechischen Gastarbeitern, die auf der Autobahn in einem Kastenwagen verbrannt waren. Sabine hatte nur eine Chance: Sie musste mit dem Staatsanwalt sprechen. Doch die vorläufigen Unterlagen des Falls würden frühestens heute Morgen an die Staatsanwaltschaft gehen. Wer immer dafür zuständig war – sie würde sich wie eine Klette an dessen Fersen heften.
    Sie blickte zu Simon. »Weißt du, welches Stück auf der Orgel gespielt wurde? Klang es professionell oder dilettantisch?«
    Simon warf ihr einen scharfen Blick zu. »Willst du die Zeugen noch mal befragen? Bine, wir werden schon auf etwas stoßen, das uns weiterhilft.«
    Auf den Anruf eines Entführers, dachte Sabine. Seine elektronisch verzerrte Stimme, die Rätselspiele und ein Tintenfässchen, das er meinem Vater als Geschenk hinterlassen hatte und das Vater angefasst hat. So ein Idiot!
    Sie kamen zur Tür.
    »Der Rahmen wurde aufgebrochen«, stellte Sabine fest.

    Das Schloss war verbogen. Der Abdruck des Brecheisens im Holz war etwa so breit wie der an der Dompforte. An der Klinke hing eine Plastiktüte mit Broschüren. Der Einbrecher musste sich die Mühe gemacht haben, die Tür wieder so ins Schloss zu drücken, dass sie nicht von allein aufging, denn dem Werbeausträger schien nichts aufgefallen zu sein. Ihr Vater hatte sie nach seinem Besuch offenbar genauso verschlossen.
    »Wieso habe ich bloß den Eindruck, dass du das schon wusstest?« , fragte Simon. Er lehnte den Zollstock neben die Tür, fotografierte die Einbruchspuren und nahm die Fingerabdrücke von der Klinke. Danach schlüpften sie mit den Schuhen in Überzieher, zogen Latexhandschuhe an und betraten die Wohnung. Es roch nach Tee. Der Heizkörper im Vorzimmer gluckste. Sabine schaltete das Licht an. Sie hatte mit umgeworfenen Vasen, verschobenen Möbelstücken, geöffneten Schränken oder auf dem Boden verstreuten Kleidern gerechnet. Doch nichts dergleichen war zu sehen. Der Raum wirkte wie immer. Mutters Schuhe standen auf der Ablage, ihre neuen Blazer hingen an den Kleiderhaken. Nur ihre Handtasche fehlte, die für gewöhnlich neben dem Spiegel stand. Keine
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