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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist
Autoren: Andreas Gruber
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nichts. Offensichtlich notierte er die Daten. Dann räusperte er sich. »Bine, sprichst du von deiner Mutter?«
    »Ja. Ich bin auf dem Weg ins Dezernat.«
    Er räusperte sich wieder, als überlegte er. »Ich will dich nicht beunruhigen, aber vor einigen Minuten kam eine Meldung herein. Der Priester des Doms und sein Mesner haben die Leiche einer älteren Frau im Hauptschiff gefunden.«
    »Oh nein!« Ihr Vater presste die Hände auf den Mund. Wieder liefen ihm Tränen übers Gesicht.
    Der erzbischöfliche Dom war Münchens Wahrzeichen. Das Polizeipräsidium, die Dezernate und Sabines Dienststelle lagen in der Ettstraße, gerade mal ein paar Gehminuten von der Frauenkirche entfernt. Sie kannte eine Abkürzung dorthin. Abrupt trat sie auf die Bremse und fuhr quer über den Ring in die nächste Seitengasse Richtung Altstadt. Reifen quietschten, und hinter ihr hupten Autos. Ihr Vater klammerte sich an den Haltegriff. Zwischen den Dächern der Häuserschlucht lugten bereits
die beleuchteten Türme des Doms mit ihren gewaltigen Hauben hervor.
    »Wir wissen noch nicht, wer sie ist«, fügte Kolonowicz rasch hinzu.
    Aber Sabine ahnte es.

2
    Jung blieb man dann, wenn man an der Zukunft zumindest genauso viel Freude hatte wie an der Vergangenheit – dieser Spruch traf auf Sabines Vater mehr zu als auf jeden anderen Menschen, den sie kannte. Doch nun sah sie in seinen verquollenen Augen die Schmerzen der letzten Tage. Ihre Eltern hatten sich nach einem hitzigen Geld- und Sorgerechtsstreit scheiden lassen. Seither hatte Sabine gedacht, ihr Vater wäre über die Trennung hinweggekommen, hätte seine Exfrau vergessen können – doch in diesen Minuten merkte sie, dass er sie maßlos vermisste.
    Sabine parkte in zweiter Reihe am Beginn der Fußgängerzone und legte die grüne Plastikhülle mit dem Ausweis des Kriminaldauerdienstes auf die Armaturenablage.
    »Warte hier«, sagte sie und stieg aus.
    »Darfst du da überhaupt rein, Eichhörnchen?«, rief er ihr nach.
    »Papa, ich bin Kommissarin.« Mit sechsundzwanzig Jahren war sie die jüngste Kommissarin vom Münchner Kriminaldauerdienst. Als Bindeglied zur Kripo wurden sie oft »die Feuerwehr der Polizei« genannt. Noch bevor ein Kripobeamter zum Tatort kam, hatten sie bereits sämtliche Spuren gesichert, die Todesursache festgestellt und die Zeugen befragt.
    Sie lief über den Platz zum Hauptportal der Frauenkirche. Die von Scheinwerfern beleuchtete Vorderfront aus Backsteinen strahlte in einem düsteren Orangeton. Die beiden massiven Türme waren so mächtig, dass Sabine auf dem Platz vor dem Hauptportal nicht einmal die Zeiger der beiden Uhren sehen konnte. Weiter oben leuchteten die zwei Hauben in einem merkwürdigen blaugrünen Farbton in der Dämmerung.
    Nur eine Handvoll Jugendliche stand auf dem Platz. Ein paar
Straßenmusikanten spielten unter einer Laterne. Sie umringten einen großen Werbeständer, der eine Papstmesse in der Kathedralkirche eine Woche vor Pfingsten ankündigte. Der »Sabst«, wie Connie ihn bezeichnet hatte, kam also tatsächlich nach Bayern. Sabine dachte an die Geschichte des Security-Auftrags, von dem sie ihren Nichten das nächste Mal erzählen wollte.
    Sabine lief am Wagen der Kripo vorbei, der mitten auf dem Platz stand, und schob die schwere Pforte mit dem Ellenbogen auf, um keine Spuren zu verwischen. Ihre Kollegen hatten sie nicht mit dem Dietrich öffnen müssen. Das Schloss war mit einem großen Stemmeisen aufgebrochen worden. Späne lagen auf dem Boden. Die etwa drei Zentimeter breiten Abdrücke im Holzrahmen waren nicht zu übersehen. Hoffentlich ist die tote Frau nicht Mutter … Der Gedanke war so irreal. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Tote und die Entführung ihrer Mutter in einem Zusammenhang standen, war extrem gering. Es durfte einfach nicht sein. Aber gerade deswegen, weil es nicht sein sollte, spürte sie diese dumpfe Gewissheit im Magen.
    Das Hauptschiff war menschenleer und lag im Dunkel. Die Kronleuchter schwebten wie finstere Kugeln über den Bänken. Lediglich ein paar Kerzen brannten. Das Dämmerlicht von den Straßen fiel durch die schmal geschlitzten bunten Fenster. Es roch nach Weihrauch, Wachs und dem Holz der alten Bänke. Zu ihrer Schande musste Sabine sich eingestehen, dass sie die Kirche das letzte Mal vor drei Jahren betreten hatte, aber selbst da nur, um Spuren von Vandalismus und Sachbeschädigung zu sichern.
    Durch die zahlreichen weißen Pfeiler wirkte das Innere des Doms wie ein zu hoch geratenes Labyrinth.
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