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Todesfrist

Todesfrist

Titel: Todesfrist
Autoren: Andreas Gruber
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kroch nach oben und untersuchte die Tür. Das Blech war an zwei Stellen verbeult. Auch hier war das Schloss mit einem Stemmeisen aufgebrochen worden. Hinter der Tür tobte das Unwetter. Unaufhörlich trommelte der Regen auf das Blech. Das Licht zuckender Blitze fiel durch die Ritzen des Schindeldachs. Kurz darauf erschütterte ein Donner die Dachkammer. Sneijder öffnete die Tür. Regenwasser peitschte durch die Öffnung. Draußen herrschte finsterste Nacht. Im nächsten Moment wurde die Tür mit einem Ruck zugedrückt und Sneijder zurückgeworfen.

    »Er ist draußen!« Sneijder warf sich gegen die Tür.
    Sabine drückte ebenfalls dagegen. Sobald sich ein Spalt auftat, schob Sneijder den Lauf der Waffe hindurch und drückte ab. Der Krach schmerzte Sabine in den Ohren. Im Feuerschein sah sie, wie eine Gestalt zurücktaumelte und in der Dunkelheit verschwand. Sneijder schob die Tür auf, doch je weiter er sie öffnete, desto lauter erklang das Stöhnen einer Frau.
    »Helen?«, rief er.
    Ein ersticktes Stöhnen folgte als Antwort. Die Frau befand sich hinter der Tür. Sneijder schob die Brandschutztür vollends auf. Gleichzeitig schrie die Therapeutin gequält auf.
    »Kümmern Sie sich um Helen!«, befahl Sneijder.
    Sabine betrat das Flachdach. Wegen des Sturms war fast nichts zu sehen. Das Licht von Sneijders Taschenlampe verlor sich bereits nach wenigen Metern in der Dunkelheit. Sie trat zur Rückseite der Tür, wo ihr Helens Anblick im Schein eines Blitzes den Atem raubte. Sie klebte mit Brust und Gesicht an der Tür, die Arme erhoben, ohne Schuhe, nur mit einer Jogginghose und einem Sweatshirt bekleidet. Sie drehte den Kopf so weit es ging. Das nasse Haar hing ihr ins Gesicht. Ein Knebel steckte in ihrem Mund. Sabine befreite sie von dem Stoffknäuel, und Helen schnappte gierig nach Luft. Ihre Hand- und Fußgelenke waren mit Kabelbindern gefesselt. Ihre Daumen fehlten. Der Regen wusch ihr das Blut über die Arme. Doch das Schlimmste waren die Stahlstifte, die aus ihren Handrücken ragten.
    Beim nächsten Blitz bemerkte Sabine die Nagelpistole auf dem Boden und die Rolle mit den neun Zentimeter langen Stiften. Carl hatte durch Helens Hände hindurch auf die Tür geschossen. Damit der Wind die Tür nicht länger herumriss und Helen unmenschliche Schmerzen zufügte, drückte Sabine den Türstopper zu Boden.
    »Sie sind in Sicherheit«, rief sie, um den peitschenden Regen zu übertönen. Was für eine erbärmliche Lüge!
    Helen verzog schmerzvoll das Gesicht. »Als Carl durchs Fenster
sah, wie Sie mit der Taschenlampe zum Turm kamen, trieb er mich nach oben.«
    Mit angelegter Waffe kam Sneijder aus der Dunkelheit zurück und stand nun mit dem Rücken vor den beiden Frauen, als wollte er sie beschützen. »Wo ist er jetzt?«
    Helen drehte den Kopf in Richtung Flachdach. »Irgendwo hier draußen … ich kann nicht länger stehen.«
    Sneijder knipste die Lampe aus. »Meine Kollegin kümmert sich um Sie. Ich hole mir den Kerl.« Im nächsten Moment verschwand er in der Dunkelheit.
    Sabine betastete Helens Wunden. Beide Handflächen klebten an der Tür, die Gelenke waren über Kreuz gefesselt. Aus jedem Handrücken ragte ein Nagel. Sie mussten etwa einen Zentimeter tief in die Blechtür eingedrungen sein. »Bin gleich wieder da … ich gehe runter und hole eine Zange. Dann schaffe ich Sie von hier fort.«
    »Nein«, schrie Helen hysterisch. »Lassen Sie mich nicht allein!«
    »Okay.« Sabine blieb. Doch ohne Waffe, Werkzeug oder Erste-Hilfe-Kasten konnte sie für Helen nicht viel tun. Sie zog das iPhone aus der Tasche, wählte die Euro-Notruf-Nummer und rief Arzt und Ambulanzwagen. Als sie auflegte, hörte sie Schritte auf der Wendeltreppe. Ein Lichtstrahl fiel durch die Türöffnung. Kurz darauf trat Kohler ins Freie.
    »Hierher!«, rief Sabine.
    Er kam um die Tür und sah die beiden Frauen. »Oh Gott, Helen!« Sogleich schlüpfte er aus der Windjacke, die er um Helens Oberkörper wickelte. »Wir haben Schüsse gehört und sind rübergelaufen. Oliver ist hier und bewacht den Eingang.«
    »Ben«, schluchzte Helen. »Du musst Dusty suchen. Er ist an der Kreuzung Ketzergasse und Triester Straße.«
    »Keine Sorge, wir werden ihn finden.« Er blickte zu Sabine. »Ich kümmere mich um sie.«
    Instinktiv griff Sabine nach der Nagelpistole und lief über das Flachdach in den Regen.

44
    Die Hausdächer Wiens sahen gespenstisch aus. Im Licht des Gewitters ragten die roten Schindeldächer wie die Bootskiele gestrandeter Schiffe
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