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Tod in der Marsch

Tod in der Marsch

Titel: Tod in der Marsch
Autoren: Hannes Nygaard
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und traten in ein
gemütlich eingerichtetes Wohnzimmer. Die Möbel waren seit langem unmodern,
strahlten aber mit ihren dunklen Holztönen eine angenehme Wärme aus. Auf dem
Tisch lagen mehrere aufgeschlagene Zeitungen, daneben eine Brille und ein
Vergrößerungsglas, wie es oft von älteren Leuten zum Lesen benutzt wird.
    Der alte Mann wies auf ein mit grünem Samt bezogenes
Sofa und nahm selbst in einem Ohrensessel Platz. Mit den Füßen schob er sich
eine kleine Fußbank zurecht. Die feingliedrigen und mit Altersflecken übersäten
Hände faltete er vor dem Bauch zusammen.
    Herr Grün bemerkte, wie die beiden Kriminalbeamten
sich im Zimmer umsahen.
    »Wissen Sie«, erklärte er, »ich wohne seit fast
fünfzig Jahren in diesem Haus. Damals war es gar nicht einfach, eine Wohnung zu
finden. Nicht für eine Einzelperson. Und schon gar nicht für einen wie mich.«
    Er sah seine Besucher an, die bei dieser Anmerkung
etwas irritiert wirkten.
    »Wissen Sie«, begann er erneut. Anscheinend war das
seine bevorzugte Redewendung. »Wenn ich Ihnen verrate, dass ich mit Vornamen
Leo heiße, kennen Sie schon fast meine Geschichte.«
    Christoph nickte ihm verstehend zu.
    »Aufgrund meines Namens vermuten Sie zu Recht, dass
ich Jude bin, einer der wenigen in Deutschland, die achtzig Jahre alt geworden
sind.«
    Herr Grün unterbrach seine Ausführungen und sah die
beiden Beamten an, als wolle er die Wirkung seiner Worte prüfen.
    »Ich bin dank der Hilfe mutiger Menschen als Einziger
meiner Familie übrig geblieben. Voller Hass, damals. Doch dann begriff ich,
dass Rache ein törichter Gedanke ist, weil ich Menschen sah, denen es genauso
schlecht ging wie mir. Wir waren damals alle ohne Hoffnung, hatten Zweifel an
der Zukunft. Doch an der wollte ich mitwirken. So bin ich nicht ausgewandert,
sondern Lehrer geworden.«
    Er atmete tief durch und schloss kurz die Augen.
    »Natürlich hat es für ein ausführliches Studium, das
mich zu einem Lehramt am Gymnasium berechtigt hätte, bei meiner Vita nicht
gereicht. Aber wissen Sie«, fügte er erneut ein, »ich habe hier in Husum in
vielen Jahrzehnten die Kinder für das wahre Leben unterrichtet. Und wenn ich
durch die Stadt gehe und meinen ehemaligen Schülern begegne, die heute selbst
Verantwortung für eine eigene Familie tragen, dann danke ich Gott für ein solch
erfülltes Leben.«
    Wieder unterbrach er sich, um die Augen zu schließen.
    »Ich bin damals aus meiner Heimatstadt weg, immer
Richtung Norden, ohne recht zu wissen, wohin es mich treibt. Hier ging es nicht
mehr weiter. Hier bin ich geblieben. So bin ich in Husum gelandet. Jeder
wusste, dass ich Jude war. Keiner traute sich etwas zu sagen in der damaligen
Zeit, insbesondere nicht diejenigen, die mit Begeisterung dem Unheil gefolgt
waren. Aber die Kinder an meiner Schule, die waren unschuldig. Und so bin ich
alt geworden, und die Schüler, meine Kinder, sind jetzt die neuen Deutschen.«
    Er schwieg.
    »Herr Grün …«, begann Christoph vorsichtig.
    Der Alte sah ihn an. »Ich habe es von Anfang an
gewusst.« Er blickte zu Große Jäger hinüber. »Sie sind von der Polizei. Glauben
Sie wirklich, alle alten Menschen sind so weltfremde Gesellen, dass sie jeden
hergelaufenen Fremden in ihre Wohnung lassen und ihm Vertrauen schenken?«
    »Ja, wir sind von der Polizei«, bestätigte Christoph.
    »Sie wollten etwas über Familie Dahl erfahren?«
    »Es handelt sich nicht um einen offiziellen Besuch der
Polizei. Die kleine Lisa ist seit einigen Tagen nicht in der Schule erschienen.
Nun sorgt sich die Lehrerin, weil auch die Mutter nicht erreichbar ist. Wir
wollten deshalb den Vater, Herrn Dahl, befragen, ob er über mögliche
kurzfristige Verwandtenbesuche seiner Frau informiert ist.«
    Der alte Herr schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, weder
Frau noch Herr Dahl gehörten zu meinen Schülern. Er ist zwar in Husum groß
geworden, hat aber nicht die Schule besucht, an der ich unterrichtet habe. Frau
Dahl stammt aus Marschenbüll. Das ist ein kleines Dorf im Umland. Ich habe die
beiden erst nach ihrer Hochzeit beim Einzug in die Nachbarwohnung kennen
gelernt. Frau Dahl war damals schon schwanger, sie hat aber noch als
Verkäuferin in einer Bäckerei gearbeitet.«
    Er hielt inne und betrachtete seine gefalteten
Greisenhände. »Eine unglaublich fleißige und nette Frau. Ihr Mann war ebenfalls
ein strebsamer junger Mann. Wenn er konnte, hat er Überstunden gemacht. Viel zu
verdienen gab es ja nicht in seinem Job als Arbeiter auf der
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