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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens
Autoren: West Morris L.
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wußte es, sechzehn Jahre zu spät. Die Straße war im Kreis verlaufen, der Kreis hatte sich geschlossen. Jetzt stolperte er über Meilensteine, die er längst überholt und vergessen glaubte. Er legte die Waffe aus der Hand und griff nach einer Zigarette. Als er das Zündholz daran hielt, merkte er, daß seine Hände zitterten. Beschämt stand er auf und begann, Brot, Käse und Oliven auf einen Teller zu legen. Dann goß er ein Glas Wein ein und stellte die karge Mahlzeit vor Anna Albertini auf den Tisch. Er sagte barsch:
    »In Siena werden sie Sie weiter verhören. Stundenlang, wahrscheinlich. Sie sollten versuchen, etwas zu essen.«
    »Ich bin nicht hungrig, danke.«
    Er wußte, sie litt unter einem Schock. Doch ihre Teilnahmslosigkeit reizte ihn unvernünftigerweise. Er fuhr sie an: »Mutter Gottes! Verstehen Sie denn nicht! Ein paar Häuser weiter liegt ein Toter. Sie haben ihn umgebracht. Er ist der Bürgermeister des Ortes. Und draußen die Menge würde sie in Stücke reißen, wenn nur einer das Stichwort gäbe. Die Männer von Siena werden Sie braten wie einen Fisch in der Pfanne. Ich will Ihnen doch nur helfen, aber ich kann Sie nicht zwingen zu essen!«
    »Warum wollen Sie mir helfen?«
    Es war kein Mißtrauen in der Frage, nur die erstaunte milde Neugier des Leidenden. Fiorello wußte die Antwort nur zu gut. Doch er konnte sie um sein Leben nicht geben. Er wandte sich ab und ging zum Fenster, während sie nun doch ein wenig von dem Essen zu sich nahm.
    Auf der Piazza entstand plötzlich Bewegung. Der Mönch war aus dem Haus des Toten getreten und eilte auf die Polizeistation zu. Die Menschen umdrängten ihn, zupften an seiner Kutte und überschütteten ihn mit Fragen. Doch er winkte nur ab und stolperte atemlos in Fiorellos Büro. Als er das Mädchen erblickte, blieb er unbeweglich stehen, und seine alten Augen füllten sich mit Tränen. Fiorello sagte:
    »Sie wissen, wer sie ist, nicht wahr?«
    Fra Bonifazio nickte müde:
    »Ich glaube, ich habe es schon erraten, als ich sie auf der Piazza stehen sah. Ich hätte das alles erwarten sollen, aber es ist schon so lange her.«
    »Sechzehn Jahre. Und jetzt platzt die Bombe.«
    »Sie braucht Hilfe.«
    Fiorello hob die Schultern und breitete die Hände zu einer verzweifelten Geste aus.
    »Was gibt es da schon zu helfen? Der Fall liegt klar auf der Hand. Vendetta, vorsätzlicher Mord. Die Strafe ist zwanzig Jahre.«
    »Sie braucht einen Rechtsbeistand.«
    »Der wird bedürftigen Häftlingen vom Staat gestellt.«
    »Das ist nicht genug. Sie braucht den besten, den wir finden können.«
    »Und wer bezahlt das? Falls Sie für diesen hoffnungslosen Fall überhaupt jemanden finden.«
    »Die Ascolinis sind den Sommer über in der Villa. Der alte Herr ist einer der bedeutendsten Strafverteidiger. Zumindest kann ich ihn bitten, sich für den Fall zu interessieren. Und wenn nicht er zu gewinnen ist, dann vielleicht sein Schwiegersohn.«
    »Und warum sollten sie?«
    »Ascolini ist in dieser Gegend geboren. Er muß doch so etwas wie Anhänglichkeit und Loyalität empfinden.«
    »Loyalität!« Fiorello stieß das Wort mit einem verächtlichen Lachen hervor. »Wir haben selber so wenig davon. Weshalb sollten wir sie von den Herren erwarten!«
    Einen Augenblick schien der kleine Priester zu resignieren. Dann kam ihm ein neuer Gedanke, und als er sich Fiorello wieder zuwandte, waren seine Augen hart. Er sagte langsam: »Auch für Sie gibt es hier eine Frage, mein Freund. Wenn Anna angeklagt wird – was wollen Sie für ein Zeugnis geben?«
    »Den Tatbestand«, sagte Fiorello knapp, »was sonst?«
    »Und was die Vergangenheit angeht? Was die Wurzel des ungeheuerlichen Falles?«
    »Das steht in den Akten.« Fiorellos Gesicht war leer, seine Augen kalt wie Steine.
    »Und wenn die Akten lügen?«
    »Dann ist mir das nicht bekannt, Pater. Ich werde dafür bezahlt, die Ordnung aufrechtzuerhalten, und nicht, die Geschichte umzuschreiben.«
    »Ist das Ihr letztes Wort?«
    »Das muß es wohl sein«, sagte Fiorello mit verzweifeltem Humor. »Ich kann mich nicht in einem Kloster verstecken wie Sie, Pater. Ich kann es mir nicht leisten, mich auf die Brust zu schlagen und der heiligen Catarina Gelübde abzulegen, wenn mal nicht alles so geht, wie ich es wünsche. Das hier ist meine Welt. Die Leute draußen sind meinesgleichen. Ich muß mit ihnen leben, so gut es geht. Die da«, er wies auf das Mädchen, »was wir auch tun, sie ist ein hoffnungsloser Fall. Ich nehme an, das macht sie zu
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