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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens
Autoren: West Morris L.
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einem Fall für die Kirche.«
    Sekunden verstrichen, während die beiden einander ansahen. Priester und Polizist, jeder seinem eigenen Weg verschrieben, verstrickt in eine gemeinsame Geschichte, während Anna daneben saß, entrückt, wie von einem anderen Stern. Dann, ohne ein weiteres Wort, wandte sich der Pater ab, hob den Telefonhörer ans Ohr und bat, mit der Villa Ascolini verbunden zu werden.
    In der Mittagsstille des Salons spielte Carlo Rienzi Chopin für den Gast Peter Landon.
    Sie waren ein seltsames Paar: der stämmige Australier mit seinem sommersprossigen ruhelosen Gesicht, eine der gewaltigen Fäuste um den Pfeifenkopf geklammert; der Italiener schlank, blaß, fast schön, mit empfindsamen Lippen und verträumten Augen voller Unzufriedenheit und Geheimnisse.
    Landon beobachtete ihn mit abschätzenden Blicken und bemerkte, wie jung er doch sei, wie verletzlich. Und wie wenig passend zu seiner kühlen, zivilisierten Frau und dem weltgewandten, brillanten alten Anwalt, der sein Chef und Schwiegervater war. Und doch war er nicht nur ein Junge. Seine Hände waren stark und doch beherrscht. Er hatte Falten auf der Stirn und Krähenfüße um die Augen. Er war Mitte Dreißig und verheiratet. Er mußte seinen Teil am Leben gelitten haben. Er spielte Chopin wie ein Mann, der um die Hoffnungslosigkeit der Liebe wußte.
    Auch in Landon rief die Musik Gefühle der Unzufriedenheit hervor. Als Mann der Neuen Welt hatte er ohne weitere Schwierigkeiten die Sitten der Alten angenommen. Sein Ehrgeiz hatte ihn eine vielversprechende Praxis in seinem eigenen Land aufgeben lassen und ihn auf Londons gefährlichen Boden gelockt. Ein Rebell von Natur, hatte er seine Zunge und sein Temperament gezügelt und sich auf die Fährnisse des eifersüchtigsten Berufs in der eifersüchtigsten Stadt der Welt eingestellt. Fleiß, Talent und Diplomatie hatten ihn zu einem der bedeutendsten Spezialisten der Kriminal-Psychopathologie werden lassen. Das war viel für einen Mann von Neununddreißig, doch immer noch um einiges vom eifersüchtig verteidigten Gipfel entfernt. Man brauchte ein Sprungbrett, ihn zu erreichen: den geeigneten Fall, die glückliche Begegnung mit einem Ratsuchenden, den Augenblick der Eingebung.
    Noch hatte sich ihm diese Gelegenheit nicht geboten, und er drohte langsam in die Enttäuschung und die Unzufriedenheit derer zurückzufallen, die gewöhnt sind, sich selbst stets das Äußerste abzufordern.
    Es war eine Art Krise, und er war klug genug, sie zu erkennen. Es gab sie in jeder Karriere: eine Zeit der Unentschlossenheit, der Gefahr und der Überempfindlichkeit. Der Mangel an Geduld und Besonnenheit hatte manchen vom Pech verfolgten Politiker seinen Posten gekostet. Manch ausgezeichneter Gelehrter hatte ein Amt nicht bekommen, weil er eine Spur zu brüsk mit seinem Vorgesetzten umgegangen war. In der engen, eifersüchtigen Organisation der englischen Ärzteschaft mußte man seinen Stolz hintanstellen und Freundschaften pflegen. Das galt um so mehr für einen Ausländer.
    Landon hatte sich seine eigene Strategie zurechtgelegt: sich zunächst für ein Jahr zu den Großen seines Faches in Europa zu begeben. Drei Monate bei Dahlin in Stockholm zum Studium der Kriminal-Psychologie, dann Gutmann in Wien und jetzt ein kurzer Aufenthalt bei Ascolini, der berühmt war für die Verwendung von gerichtsmedizinischen Gutachten.
    Und dann: Auch ihn bewegte die Frage, was nun kommen sollte. Die Frage, wieviel ein Mann für die Erfüllung seines Ehrgeizes zahlen sollte. Und wenn er bezahlt hatte, wie sollte er die Früchte genießen und mit wem?
    Die alte, traurige Musik bewegte ihn mit ihrer Melodie aus verlorener Hoffnung, vergangener Liebe und dem Widerhall vergessener Triumphe.
    Als der letzte Ton verhallt war, schwang Rienzi auf seinem Stuhl herum und sah ihn an. Seine Lippen verzogen sich zu einem jungenhaften unsicheren Lächeln.
    »Los, Peter. Die Musik ist vorbei. Jetzt heißt es zahlen.«
    Landon nahm die Pfeife aus dem Mund und lächelte zurück.
    »Was kostet's denn?«
    »Einen Rat. Einen beruflichen Rat.«
    »Worüber?«
    »Über mich selbst. Du bist jetzt eine Woche hier. Ich glaube, wir sind Freunde geworden. Du kennst einen Teil meiner Probleme und bist klug genug, den Rest zu erraten.« Er streckte mit einer unvermittelten flehenden Geste die Hände aus. »Ich bin ein Gefangener, Peter. Ich bin in einem Land verheiratet, in dem es keine Scheidung gibt. Ich liebe eine Frau, die nichts von mir wissen will. Ich
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