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Tochter des Schweigens

Titel: Tochter des Schweigens
Autoren: West Morris L.
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es. Sie sind ein zu vielschichtiger Mann, dottore, zu verwirrend in jeder Gestalt.«
    »Und wo ist der wahre Ascolini?«
    »In allen – und in keinem.«
    »Erklären Sie sie mir, Kind.«
    »Das hier: der große Jurist. Der Mann, der Roms Gerichte beherrscht. Er ist recht wandlungsfähig, wie Sie sehen. Hier ist er, der Liebling der Salons, der Spaßmacher, der die Männer erröten läßt und die Damen zum Kichern bringt, wenn er in ihre bereitwilligen Ohren flüstert. Und hier? Ein Schnappschuß im Sordello: Ascolini beim Wein mit seinen Studenten, traurig, keinen eigenen Sohn zu haben. Hier ist er, der Schachspieler, der Menschen rückt wie Bauern und sich selber noch mehr verachtet als sie. Im nächsten ist eine Erinnerung. An die Jugend vielleicht, und an eine alte Liebe. Und das letzte, der große Anwalt. Was wäre aus ihm geworden, hätte ihn nicht ein Dorfpriester aus dem Graben gezogen und ihm die Welt geöffnet? Ein Bauer mit einem Reisigbündel auf dem Rücken und lebenslanger Eintönigkeit in den Augen.«
    »Es ist einfach zuviel«, sagte der alte Mann. »Von einem so jungen Menschen. Zuviel und zu erschreckend. Wieso wissen Sie das alles, Ninette? Wieso sehen Sie hinter so viele Geheimnisse?«
    Einen Augenblick sah sie ihn mit dunklen mitleidigen Augen an. Dann schüttelte sie den Kopf.
    »Das sind keine Geheimnisse, dottore. Wir sind, was wir tun. Es steht in unseren Gesichtern geschrieben – und jeder kann es lesen. Ich? Ich bin eine Fremde hier. Ich bin von Frankreich gekommen – wie die alten Glücksritter, die Reichtümer des Südens zu plündern. Ich lebe allein. Ich verkaufe meine Bilder – und warte auf einen Menschen, dem ich mich anvertrauen kann. Ich weiß, was es heißt, allein zu sein und voll Angst. Ich weiß, was es heißt, die Hand nach Liebe auszustrecken und eine Illusion zu greifen. Sie sind gut zu mir gewesen – und haben mir mehr von sich gezeigt, als Sie wissen. Ich habe mich oft gefragt, warum.«
    »Das ist doch einfach genug.« Ein harter Ton schwang in seiner vollen Stimme mit. »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, Ninette, dann würde ich Sie fragen, ob Sie meine Frau werden wollen.«
    »Wenn ich zwanzig Jahre älter wäre, dottore«, sagte sie leise, »würde ich wahrscheinlich sagen: ja. Und Sie würden mich fortan dafür hassen.«
    »Nie könnte ich Sie hassen, meine Liebe.«
    »Sie hassen alles, was Sie besitzen, dottore. Sie lieben nur, was Sie nicht haben können.«
    »Sie sind hart heute, Ninette.«
    »Es gibt harte Tatsachen, denen man ins Gesicht sehen muß, nicht wahr?«
    »Wahrscheinlich.«
    Er ließ ihre Hand los, ging zum Fenster und ließ seinen Blick über die sonnenbeschienenen Türme und Dächer der alten Stadt schweifen. Seine hohe Gestalt schien zusammengesunken, sein kühnes Gesicht zerfurcht und eingefallen, als wäre er unversehens alt geworden. Eine Welle des Mitgefühls überflutete Ninette. Nach einer Weile sagte sie: »Es ist Valeria, nicht wahr?«
    »Und Carlo.«
    »Erzählen Sie mir von ihr.«
    »Wir waren noch keine zwei Tage hier, da fing sie schon ein Verhältnis an. Mit Basilio Lazzaro.«
    »Es ist nicht das erste, dottore. Sie selber haben sie ja ermutigt. Was stört Sie gerade an diesem?«
    »Es ist schon ziemlich spät für mich, Ninette. Ich will Enkelkinder in meinem Haus und Aussicht auf Beständigkeit. Und dieser Lazzaro ist ein Lump, der sie zerstören wird.«
    »Ich weiß«, sagte Ninette Lachaise leise. »Ich weiß es nur zu gut.«
    »Ist es in Siena schon stadtbekannt?«
    »Das glaube ich nicht. Aber ich war einmal selber in Lazzaro verliebt. Er war meine große Illusion.«
    »Das tut mir leid, Kind.«
    »Ich brauche Ihnen nicht leid zu tun – nur sich selber und Valeria sollten Sie bedauern. Und Carlo, freilich. Weiß er es schon?«
    »Ich glaube kaum.«
    »Aber von den anderen – von denen hat er doch gewußt?«
    »Das nehme ich an.«
    »Ich erinnere mich, dottore, Sie haben darüber gelacht. Sie haben einen Witz daraus gemacht, daß Ihre Tochter einem Narren von Ehemann Hörner aufsetzt. Sie sagten, sie folge Ihren Spuren, Sie waren stolz auf ihre Eroberungen – und auf ihre Schlauheit.«
    »Er ist ein Narr«, sagte Ascolini bitter, »ein sentimentaler junger Narr, der niemals wußte, was die Uhr geschlagen hat. Er hat eine Lektion verdient.«
    »Und jetzt?«
    »Jetzt redet er davon, daß er mich verlassen will und eine eigene Praxis eröffnen.«
    »Und das ist Ihnen nicht recht?«
    »Natürlich nicht! Er ist zu jung,
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