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Tochter Der Traumdiebe

Tochter Der Traumdiebe

Titel: Tochter Der Traumdiebe
Autoren: Michael Moorcock
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untereinander Frieden - oder würden sie sofort übereinander herfallen?
    Waren wir unterwegs zum Ragnarök?
    Die Flugzeuge waren vorbei, es wurde still.
    Als halte die ganze Welt den Atem an.
    Warten.
    In der Ferne hörten wir das gleichmäßige, mechanische Donnern von Kanonen und Bomben, das Kreischen der Jagdflugzeuge und der Leuchtspurgeschosse. Im Osten stieg Rauch aus orangefarbenen Flammen auf, es blitzte und Bomben explodierten. Schwarzmaul schwenkte in eine lange, anmutige Kurve ein, der Morgensonne entgegen, und bald hatten wir den Schlachtenlärm hinter uns gelassen. England würde den Tag nicht überstehen, der Krieg in Europa war für Hitler so gut wie gewonnen. Gegen wen würde er seine Aufmerksamkeit als Nächstes richten? Nach Russland?
    Ich trauerte über Englands Untergang, doch meine Gefühle waren gemischt. Die Überheblichkeit, die selbstverständliche Anmaßung der Macht, die Verachtung für alles, was nicht britisch war, all dies hatte sich bis zum Ende gehalten. Diese Charakterzüge waren es auch, die zu einer Unterschätzung Deutschlands geführt hatten. Doch auf der anderen Seite standen Mut, Zähigkeit, Zuversicht und Erfindungsgeist, Gelassenheit auch unter schwerem Beschuss. All dies war in die Entwicklung der großen Kriegsschiffe gesteckt worden, dieser kleinen Kampfinseln, jedes ein kleines Land für sich. Diese mächtigen Schiffe hatten die Welt beherrscht und Napoleon zur See geschlagen, doch gemeinsam hatten wir ihn an Land besiegt. Eine blutbesudelte Nation von Piraten mochte es sein, jederzeit bereit, mit der eigenen Grobheit und Brutalität zu prahlen. Doch die Helden hatten ihre Macht durch ihre Entschlossenheit erworben, indem sie ihr Leben und ihr Vermögen aufs Spiel setzten. Nicht wenige große Männer waren zugleich auch große Dichter oder Historiker gewesen. Wenn das Land jetzt heruntergekommen war, dann lag es daran, dass es solche integren, weitsichtigen Männer nicht mehr gab.
    Dies war der Tag der großen Abrechnung. Der Tag, der früher oder später für jede imperialistische Nation kommt - ob Byzanz oder Karthago, Jerusalem oder Rom. Unfähig, die eigene Sterblichkeit auch nur ins Auge zu fassen, sah England jetzt die doppelte Schmach von Niederlage und Versklavung auf sich zukommen. Hitler hatte in seinem Reich die Sklaverei wieder eingeführt. Die Briten, die in der Welt bei der Abschaffung dieser schrecklichen Praxis die Führung übernommen hatten, würden erneut die Erniedrigung und das schlimme Elend der Zwangsarbeit kennen lernen. Just als das Land endlich die nationalen Laster beiseite schob und sich auf seine Tugenden besann, schlug die Stunde seines Untergangs. Das Land würde untergehen und trotzdem noch im Untergang beweisen, dass Tugend stärker ist als Verkommenheit, dass Mut sich letzten Endes gegenüber Feigheit durchsetzen wird und dass die beiden Seiten in Augenblicken nebeneinander existieren können, die wir Jahre später als Beispiele für das Beste, was wir sein können, und nicht für das Schlimmste auffassen. Ein lebender Beweis, dass die Tugend uns stärker macht und besser schützt als es jeder Zynismus vermag. Warum war das nur eine Lektion, die wir immer und immer wieder lernen mussten?
    Seltsam, diese philosophischen Betrachtungen, während ich voller Begeisterung auf dem Rücken eines Drachen flog. Und so typisch für mich. Aber ich musste trotzdem um das Land trauern, das viele Deutsche für einen natürlichen Verbündeten gehalten hatten, für ein Vorbild, dem sie nacheifern wollten.
    Jetzt waren wir über dem Wasser. Ruhiges, funkelndes Wasser. Grüne Hügel. Gelbe Strände. Wieder Wasser. Einschläferndes, warmes Sonnenlicht, als wäre die Welt nie etwas anderes als ein Paradies gewesen. Kleine Städte schienen aus der Erde selbst gewachsen zu sein. Flüsse, Wälder, Täler. Die heimelige Schönheit englischer Grafschaften. Was würde daraus werden, sobald die Deutschen die britische Luftwaffe zerstört und die Welt ›germanisiert‹ und mit ihren seltsamen Vorstellungen von Tradition in eine komische Oper verwandelt hatten? Die öden, schwarzen Industriestädte, die jedermann hasste, leisteten den größten Beitrag zur Verteidigung dieser Beschaulichkeit, dieses Ideals, gegen eben jene Tyrannei, die unter dem Vorwand, das Gute zu bewahren, diese Lebensart für immer zerstören würde.
    So stark waren meine Gefühle, dass ich mir wünschte, wir wären wieder den Gefahren von Mu Ooria ausgesetzt. Das wäre einfacher gewesen. Hatte
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