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Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Titel: Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Autoren: Mona Vara
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hinsieht.« Mit zunehmender Lebhaftigkeit ging er daran, dem anderen die Unterschiede zu erklären, und mit jedem Wort entdeckte er selbst neue. Seine Erkenntnis faszinierte ihn. Und endlich wandte er sich der Beschreibung des Mädchens zu. »Es heißt«, schloss er seine Ausführungen, als ihm wieder einfiel, wie die andere Frau es gerufen hatte, »Gabriella.«
    Er hatte schon begriffen, dass Menschen sich manchmal mit Namen riefen. Der Herr der Grauen Welt hatte einen: Strabo. Er runzelte die Stirn. Ihn hatte noch nie jemand bei einem Namen gerufen. Oder doch? Als er versuchte, sich zu erinnern, stellte sich seinen Gedanken ein zäher Widerstand entgegen, bis er den Versuch aufgab. Sie brauchten keinen Namen: Die Jäger sprachen sich untereinander nicht an, es genügte ein Blick, eine Handbewegung, um zu wissen, wer gemeint war. Außerdem jagten sie meist allein. Selten zu zweit und nie zu mehreren.
    »Weshalb ist dir das so wichtig?«
    Der Jäger zögerte, drehte sich zu seinem Begleiter um und studierte dessen Züge. Sollte er es ihm sagen? Oder das Geheimnis besser für sich behalten? Endlich sagte er: »Das Kind hat mich gesehen. Angesehen .« Er verschwieg, dass es sogar durch ihn hindurchgelaufen war und etwas ausgelöst hatte, das er nicht verstand. Aber auch dieser Blick war nicht gewöhnlich gewesen, sondern wie eine zweite Berührung. Bei der Erinnerung lief ein Schauer über seinen Rücken, seine Haut, ließ seinen Körper leicht erzittern. Da war etwas Neues in ihm. Ein Gedanke? Nein, es war etwas, das in seinem Körper ebenso widerhallte wie der Hass derer, die er verfolgte.
    Es war lange Zeit still zwischen ihnen. Schließlich sagte der hellhaarige Jäger langsam: »Manchmal sehen die Menschen uns tatsächlich an.«
    Er wirbelte herum. »Mir ist noch nie aufgefallen, dass sie uns sehen!«
    »Mir schon.« Der andere zuckte mit den Schultern. »Vor sehr vielen Menschenjahren das erste Mal.« Er sprach so langsam und fast widerwillig, als bereitete es ihm Mühe, die Erinnerung hervorzuholen. »Die Menschen nannten sie eine Hexe. Die Beute war unter jenen, die sie quälten.« Er konnte sich an das höhnische Lachen der Frau erinnern, als er die Beute, einen Mann, gepackt und mitgenommen hatte, und an dessen Gesicht, das zuerst vor Lust am Quälen ganz verzerrt war und dann vor Angst.
    Er war damals auch wiedergekommen, von einer seltsamen, verbotenen Neugier getrieben. Aber da hatte sie schon gebrannt, die Flammen schälten ihr die Haut vom Körper, und ihr Haar loderte wie eine Fackel. Man behauptete, sie hätte den Teufel gerufen. Er hatte einige Zeit gebraucht, um zu begreifen, dass sie ihn damit meinten. Er hatte dann begonnen, zu erforschen, wer der Teufel war, und war verwundert gewesen. Seltsam, dass er nach einem Wort dafür suchte, das seine Gefühle damals ausdrückte. Der dunkle Jäger unterbrach seine Gedankengänge.
    »Wenn sie uns sehen … haben sie dann Angst vor uns?«
    »Angst?« Er überlegte. Ja, diese Menschen hatten damals Angst gehabt. Sogar vor dieser dem Tod geweihten Frau. Und vor dem, was sie mithilfe des Teufels tun könnte. »Sie … nennen uns manchmal Teufel«, sagte er nachdenklich. »Und manchmal behaupten sie, wir brächten unsere Beute in die Verdammnis.«
    Der dunkelhaarige Jäger hob die Augenbrauen.
    »Aber«, fuhr der hellhaarige Jäger fort, »ich hatte noch nie das Bedürfnis, die Menschen zu erkunden. Oder sie gar zu unterscheiden. Du solltest das auch vergessen. Und auch dieses Kind.« Er zuckte mit den Achseln. »Manche sehen uns eben. Nimm es hin und vergiss es. Weich ihnen einfach aus. Das ist das Klügste und bringt dich nicht in Schwierigkeiten.« Er hob grüßend die Hand und ging davon.
    Der Jäger blieb zurück. Er versuchte, den Empfindungen Namen zu geben, die in ihm auftauchten, als hätten sie bisher in großer Tiefe im Verborgenen geschlummert. Als wäre es dieses Kind gewesen, das sie auslöste oder wie einen Samen in ihn pflanzte. Dieses Kind hatte Gefühle gehabt und ihn damit berührt. Er schlenderte weiter und fand sich am Rand des Wassers. Die irdische Sonne brach durch dunkle Wolken, und es war, als würden ihre Strahlen das Wasser, das Land, die Gebäude und die Menschen wie mit goldenen Fingern berühren. Er stand, schaute umher und staunte. Und tief in ihm wuchs etwas heran, zart, noch fast unmerklich, aber unaufhaltsam.

Erstes Kapitel
    Camilla lag im Sterben. Seit Wochen. Seit Monaten. Im Grunde seit Jahren. Seit dem Moment, in dem man
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