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Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten

Titel: Tochter der Schatten - Vara, M: Tochter der Schatten
Autoren: Mona Vara
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endlosen Horizont, der nur durch einen grauen Dunstschleier begrenzt wurde.
    Selbst wenn er dem Schauspiel nicht schon so oft beigewohnt hätte, wäre er davon nicht erstaunt oder gar berührt gewesen. Jäger hatten keine Gefühle. Sie hatten keine Gedanken. Sie waren nichts weiter als ein Arm des Herrschers, der nur einem Zweck diente: Entflohene aufzuspüren und zurückzubringen.
    Er hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht, weshalb sie flohen. Sie taten es eben. Als verfügte die Welt jenseits der Barriere eine Anziehungskraft, die weit über normale Gravitation hinausging. Er hatte sie dort verfolgt, gleichmütig und gleichgültig, während er wartete, bis ihr Odem sie veränderte und sich die Bösartigkeit zeigte. Erst dann schlug er zu, fasste sie und brachte sie hierher.
    Aber nun war es nicht wie immer. Er war sich dessen nicht gleich bewusst, aber da war etwas, das ihn abermals auf die Frau blicken ließ, um sie zu beobachten. Etwas, das Verwunderung in ihm auslöste. Weshalb wehrte sie sich so sehr? War es nicht gleichgültig, was mit ihr geschah? War die Vernichtung ihrer Existenz denn schlimmer als dieses Leben hier? Er sah wieder zu den sich drängenden Menschen im Hintergrund und blickte zum ersten Mal bewusst in ihre Gesichter. Er suchte nach einem Begriff für das, was er in ihren Mienen sah. Es fiel ihm schwer. Er konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor Gefühle ausgedrückt zu haben. Sie hatten … Angst? Und zugleich glühten ihre Augen gierig.
    Die Stimme des Herrn von Amisaya riss ihn aus seinen Betrachtungen. Er beeilte sich, seine Gedanken freizumachen und dem Herrscher Zutritt zu seinem Geist zu gewähren. Dieser sah nun mit seinen Augen die Verfolgung, betrachtete mit ihm gemeinsam das blutige und noch blutende Opfer, schritt mit ihm die Straße entlang, den die flüchtende Beute genommen hatte.
    Normalerweise hätte der Jäger keine Sekunde darüber nachgedacht, Strabo seinen Geist völlig zu öffnen, ihm jeden Winkel preiszugeben, aber plötzlich war auch hier etwas verändert: Es war ihm unangenehm, dem Herrscher das Bild des kleinen Mädchens zu zeigen, das durch ihn hindurchgelaufen war und ihn … berührt … hatte. Aber es war zu spät. Der Herrscher war schon bei diesem Teil seiner Erinnerung angelangt, und es war unmöglich, sie abzublocken. Der Jäger hatte auch keine Erfahrung damit; das Bedürfnis, einen, wenn auch noch so geringen Teil seiner Erinnerungen in sich zu verschließen, hatte er bisher nie verspürt.
    Und dann geschah etwas noch Seltsameres: Für den Bruchteil eines Lidschlags bemerkte er Strabos Verwirrung, sein Erschrecken, und dann brach die Verbindung ab.
    Der Jäger versuchte noch, dieser Verwirrung nachzuspüren, als auch schon das Urteil über die Geflohene gesprochen worden war. Die Nebelschwaden um sie verdichteten sich. Sie schrie auf. So gellend, dass sogar der Körper des Jägers in der Zwischenwelt vibrierte. Ein Schrei, von so hasserfüllter und zugleich verzweifelter Intensität, dass selbst die gierigen Zuschauer zurückwichen.
    Dann lösten sich die Nebelschwaden auf, und der Platz, an dem die Frau soeben noch gekämpft hatte, war leer. Auch die zerlumpten Gestalten starrten in die Leere, eine Mischung aus Lüsternheit und Grauen in den Augen.
    Was empfanden sie? Der Jäger war verwundert, aber er fand keine Antwort. Weshalb drängten sie sich hier? Sie hatten Angst und strömten doch herbei? Nicht um zu helfen, sondern um sich an dem Schauspiel zu ergötzen. Für Sekunden zogen andere Bilder vor seinem inneren Auge vorüber: Parallelen zur menschlichen Welt, Menschen, die sich um andere drängten, gafften, die gemeinsam schrien, die sich versammelt hatten, lachten und gleichzeitig alle diesen gierigen, angespannten Ausdruck im Gesicht hatten.
    Die Stimme des Herrschers ertönte so unvermittelt in seinem Kopf, dass er erschrocken zusammenzuckte. »Deine Arbeit ist getan. Du kannst gehen.«
    Er verneigte sich leicht. Da war etwas, das seinen Körper leichter machte als noch zuvor. Es nahm ihm die Schwere, die körperliche Beklommenheit, die er viel später, nachdem er gelernt hatte, seine Gefühle zu erkennen und zu benennen, als Besorgnis bezeichnen würde.
    Der Herrscher hatte nicht gesehen, wie das Mädchen ihn berührt hatte. Die Verbindung zwischen dem Grauen Herrn und ihm war vorher, schon beim Anblick des Kindes, unterbrochen worden, und die Berührung, diese wundersame Innigkeit, blieb sein Geheimnis. Ein Frösteln durchlief ihn bei diesem
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