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Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Timpetill - Die Stadt ohne Eltern: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Henry Winterfeld
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Berlins. Es war eine leichtlebige Stadt, ein kulturelles Zentrum voller Kraft und Ideen. Die Zensur des Kaiserreichs war aufgehoben, Kunst und Wissenschaft blühten, riesige Kinos und neue Theater entstanden am Kurfürstendamm, und es gab alle Arten von Kleinkunst.
    Wenn man von den »goldenen Zwanzigern« spricht, meint man vor allem Kunst und Wissenschaft, denn das Land litt noch immer unter den Folgen des verlorenen Kriegs. Zwei Millionen Deutsche waren gefallen, weitere verwundet und verkrüppelt worden. Die junge Demokratie stand auf wackligen Beinen, es gab Putschversuche und Massenstreiks, die sich zu Kämpfen auswuchsen. Auch wirtschaftlich war es schwierig, viele litten unter Armut, das Land war hoch verschuldet, und das Geld war mit jedem Jahr weniger wert, bis die Inflation im November 1923 ihren Höhepunkt erreichte: Tausend Gramm Roggenbrot kosteten am 19. November absurde 233 Milliarden Mark. Alle Ersparnisse waren praktisch nichts mehr wert, Arbeiter und Angestellte litten, während Häuser und Grundbesitz von dieser Entwertung kaum betroffen waren: ein Haus blieb immer ein Haus.
    Die Winterfelds überstanden die Situation unbeschadet; ihre Musik war noch immer beliebt.
    1929 kam es zur Weltwirtschaftskrise, und wieder litten die unteren Schichten. Viele gaben der Weimarer Republik und den demokratischen Kräften die Schuld und wählten radikale Parteien. Vor allem Adolf Hitlers rechtsradikale NSDAP gewann rasend schnell Anhänger. Bei der Reichstagswahl 1928 hatte sie gerade einmal 2,63 Prozent der Stimmen bekommen, 1930 erhielt sie bereits 18,33 Prozent.
    Die Weltsicht der Partei war von Antisemitismus geprägt, ganz offen gab sie den Juden die Schuld an dem finanziellen Elend. Diese feindselige Haltung gegenüber Juden war damals überall in Europa anzutreffen, häufig nur unterschwellig. In Deutschland mussten die Juden nun für immer mehr Menschen als Sündenbock herhalten.
    Die sogenannte »Sturmabteilung« (kurz SA), paramilitärische Schlägertrupps der NSDAP, marschierte uniformiert durch die Straßen und schüchterte politische Gegner ein. Doch auch die Kommunisten hatten ihre Kämpfer, ab 1924 organisiert als »Roter Frontkämpferbund«. Die demokratischen Parteien gründeten unter Führung der SPD das aus Kriegsveteranen bestehende »Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold«, um die Republik im Inneren zu verteidigen.
    Von Beginn der Weimarer Republik an kam es immer wieder zu offener Gewalt, politische Versammlungen des Gegners wurden gestürmt, doch Hitlers SA überfiel auch Juden oder die christliche Kolpingjugend. Vor der Reichstagswahl im Juli 1932 kam es deutschlandweit zu blutigen Straßenschlachten mit etwa hundert Toten und über tausend Verletzten. Eines der Zentren der Gewalt war Berlin.
    Henrys Bruder Robert wollte anfangs auf Seiten der Kommunisten kämpfen, aber seine Kameraden überzeugten ihn, dass das Geld, das er mit dem Komponieren von Schlagern verdiente, hilfreicher war als ein weiteres Paar Fäuste, und so spendete er über die Jahre einen großen Teil seiner Einkünfte.
    Henry war nicht so politisch wie sein Bruder, doch natürlich war er als Jude von der sich wandelnden Stimmung ebenso betroffen. Auch auf seinen Sohn, den neunjährigen Thomas, müssen die Entwicklungen beunruhigend gewirkt haben. Er war behütet und in Wohlstand aufgewachsen – jetzt gehörte er zu den Sündenböcken und hörte immer wieder von Gewalt auf den Straßen.
    Und es sollte noch schlimmer kommen. Im Januar 1933 wurde Adolf Hitler Reichskanzler, und Anfang März gewann seine Partei auch die Reichstagswahl. Am 24. März riss er mit Hilfe von Ermächtigungsgesetzen die Macht endgültig an sich; jetzt musste er sich nicht einmal mehr an die Verfassung und die darin festgeschriebenen Grundrechte halten, er konnte neue Gesetze erlassen, ohne sie dem Reichstag zur Abstimmung vorzulegen. Keine fünfzehn Jahre nach Beginn der Weimarer Republik war die Demokratie von einer Diktatur abgelöst worden.
    Ironischerweise feierte Hitler seine Machtergreifung unter anderem mit dem von Robert komponierten Schlager Das gab’s nur einmal – ihm war nicht klar, dass das Lied von einem Juden stammte.
    Das Vermögen der Winterfelds wurde – wie das anderer Juden – beinahe sofort von den Nazis eingezogen, ebenso wurden ihnen die Villa und die Autos genommen. Die Winterfelds sahen keine Zukunft mehr in Deutschland, doch Juden war es untersagt, ohne Genehmigung das Land zu verlassen. Diese Genehmigung kostete viel Geld,
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