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Timbuktu

Timbuktu

Titel: Timbuktu
Autoren: Paul Auster
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Zeit verbrachte sie in einer Welt voller Phantasiegestalten, und sie führte Mr. Bones in diese Welt ein und ließ ihn daran teilhaben, machte ihn zu ihrem männlichen Helden. Die Wochenenden waren angefüllt mit diesen aberwitzigen Improvisationen. Da war die Teegesellschaft in der Burg der Baroneß von Dunwitty, an der sie teilnahmen, eine wunderbar machiavellistische, aber gefährliche Verschwörung mit dem Ziel, das Königreich Floriana zu erobern. Da war das Erdbeben in Mexiko. Da war der Sturm am Felsen von Gibraltar, und da war der Schiffbruch, bei dem sie auf der Insel Nemo strandeten, wo ihre einzige Nahrung aus Baumknospen und Ahornsamen bestand, doch wenn man den magischen Krabbelwurm fand, der dicht unter der Erdoberfläche lebte, und ihn mit einem Haps aufaß, konnte man fliegen (Mr. Bones schluckte den Wurm hinunter, mit dem Alice ihn fütterte, und dann klammerte sie sich an seinen Rücken, er erhob sich in die Lüfte, und so entkamen sie von der Insel).
    Tiger bedeutete rennen und springen. Alice bedeutete Wörter und das Aufeinandertreffen zweier verwandter Geister. Sie war jene alte Seele in einem jungen Körper, die ihre Eltern dazu überredet hatte, Mr. Bones zu behalten, doch jetzt, wo er da war und schon einige Zeit bei ihnen verbracht hatte, wußte er, daß Polly diejenige war, die ihn am meisten brauchte. Nach ein paar Dutzend gemeinsamer Vormittage, an denen er ihr zugehört und zugesehen hatte, begriff er, daß sie ebensosehr Gefangene ihrer Lebensumstände war wie er selbst. Sie war erst achtzehn gewesen, als sie Dick kennenlernte. Das war kurz nach ihrem High-School-Abschluß gewesen, und um noch ein wenig Geld zu verdienen, bevor sie im Herbst aufs College nach Charlotte ging, hatte sie einen Sommerjob als Kellnerin in einem Fischrestaurant in Alexandria, Virginia, angenommen. Gleich bei seinem ersten Besuch fragte Dick sie, ob sie mit ihm ausgehen wolle. Er war neun Jahre älter als sie, und sie fand ihn so attraktiv und selbstsicher, daß sie weiter ging als geplant. Die Romanze dauerte drei oder vier Wochen, und dann kehrte sie nach North Carolina zurück, um aufs College zu gehen. Sie hatte Pädagogik studieren und Lehrerin werden wollen, doch nach einem Monat stellte sie fest, daß sie schwanger war. Ihre Eltern waren völlig außer sich, als sie ihnen davon erzählte. Sie beschimpften sie als Schlampe, sagten, sie habe sie mit ihren Ausschweifungen entehrt, und weigerten sich, ihr zu helfen - worüber sich die Familie so entzweite, daß der Riß nie wieder richtig gekittet wurde, auch nicht nach neun Jahren voller gegenseitiger Entschuldigungen und Reuebekenntnisse. Eigentlich hatte sie Dick gar nicht heiraten wollen, aber wohin sollte sie denn, nachdem ihr eigener Vater sie verstoßen hatte? Dick meinte, er liebe sie. Immer wieder sagte er ihr, sie sei die schönste, bemerkenswerteste Frau auf der ganzen Welt, und nach ein paar Monaten des Schwankens und der verzweifeltsten Spekulationen (Abtreibung, Freigabe zur Adoption, das Baby behalten und sich irgendwie allein durchschlagen) gab sie Dicks Drängen nach und verließ das College, um ihn zu heiraten. Wenn das Baby erst alt genug sei, dachte sie, könne sie ja wieder aufs College zurück, doch Alice kam mit allen möglichen gesundheitlichen Problemen zur Welt, und in den folgenden vier Jahren war Polly vollauf mit Ärzten, Krankenhäusern, gewagten Operationen und allen möglichen Kuren und Konsultationen beschäftigt, um ihre Kleine am Leben zu erhalten. Sich so um sie gekümmert und sie durchgebracht zu haben sei ihre größte Leistung als Mensch, sagte sie eines Morgens zu Mr. Bones, doch obwohl sie damals selbst noch ein junges Ding gewesen sei, frage sie sich, ob ihr das nicht für immer jede Kraft entzogen habe. Als Alice gesund genug war, um in die Schule zu gehen, dachte Polly daran, ihr Studium wiederaufzunehmen, doch dann wurde sie mit Tiger schwanger und mußte es erneut verschieben. Jetzt war es wohl zu spät dafür. Dick verdiente gutes Geld, und wenn man sein Gehalt nahm und einige der Investitionen hinzurechnete, die er getätigt hatte, waren sie recht wohlhabend. Er wollte nicht, daß sie arbeiten ging, und jedesmal, wenn sie davon anfing, daß es doch ganz schön wäre zu arbeiten, gab er ihr dieselbe Antwort. Sie habe doch schon einen Beruf, sagte er dann. Frau und Mutter zu sein sei schon schwer genug, und warum etwas nur um der Veränderung willen ändern, wo er doch für sie sorge? Und dann ging er los und
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