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Tiere essen

Tiere essen

Titel: Tiere essen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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geworden war. Wenn man solche Aus sprüche Kafkas nicht selbst aus seinem Munde gehört hat, kann man sich schwerlich eine Vorstellung davon machen, wie einfach und leicht, ohne alle Affektation, ohne das geringste Pathos (das ihm überhaupt fast völlig fremd war) Derartiges von ihm gesagt wurde.
     
    Was hatte Kafka dazu bewogen, Vegetarier zu werden? Und warum führt Brod Fische an, um Kafkas Ernährung anzusprechen? Bestimmt hat sich Kafka in der Zeit, als er Vegetarier wurde, auch zu Landtieren geäußert.
    Eine mögliche Antwort liegt in der Verbindung, die Benjamin einerseits zwischen Tieren und Scham und andererseits zwischen Tieren und Vergessen herstellt. Scham ist das Werk der Erinnerung gegen das Vergessen. Wir empfinden Scham, wenn wir Erwartungen der Gesellschaft und unsere Verpflichtungen gegenüber anderen fast ganz – wenn auch nicht gänzlich – zugunsten unserer unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung vergessen. Für Kafka müssen Fische in besonderer Weise jenes Fleisch des Vergessens gewesen sein: Wir vergessen sie derart radikal, wie wir das bei Nutztieren nicht tun würden.
    Neben diesem buchstäblichen Vergessen von Tieren, indem man sie isst, sind Tierleiber auch noch mit dem Vergessen von all dem belastet, was wir an uns selbst vergessen wollen. Wenn wir einen Teil unseres Wesens leugnen wollen, sprechen wir von unserer »animalischen Natur«. Wir unterdrücken oder verbergen diese Natur, wachen dann aber dennoch – wie Kafka besser wusste als wir alle – manchmal auf und stellen fest, dass wir, immer noch, nur Tiere sind. Und das scheint richtig zu sein. Es ist nicht so, dass Fische uns vor Scham erröten lassen. Wir können in Fischen Teile von uns wiedererkennen – Wirbelsäule, Nozizeptoren (Schmerzrezeptoren), Endorphine (die Schmerzen lindern), alle bekannten Schmerzreaktionen –, doch dann leugnen wir, dass diese tierischen Ähnlichkeiten wichtig sind, und damit leugnen wir gleichermaßen wichtige Züge unseres Menschseins. Was wir in Bezug auf Tiere vergessen, vergessen wir langsam auch in Bezug auf uns.
    Wenn wir heute über das Essen von Tieren reden, steht nicht nur unsere grundlegende Fähigkeit auf dem Spiel, wie wir mit fühlendem Leben umgehen, sondern unsere Fähigkeit, wie wir mit Teilen unserer eigenen (tierischen) Natur umgehen. Es herrscht nicht nur Krieg zwischen uns und ihnen, sondernzwischen uns und uns. Es ist ein Krieg, der so alt wie das Erzählen von Geschichten ist und der unausgewogener als jemals in der Geschichte ist. Der Philosoph Jacques Derrida sagt, es sei
    ein ungleicher Kampf, ein Krieg (dessen Ungleichheit sich eines Tages umkehren könnte), der geführt wird zwischen einerseits denen, die das Leben der Tiere nicht nur missachten, sondern auch und sogar das empfundene Mitgefühl, und andererseits denen, die ein festes Bekenntnis zu diesem Mitgefühl fordern.
    Es wird Krieg geführt über das Thema Mitgefühl. Dieser Krieg ist vermutlich zeitlos, aber … er durch läuft eine kritische Phase. Auch wir durchlaufen diese Phase, und sie durchläuft uns. Der Krieg, in dem wir uns derzeit befinden, ist nicht nur eine Aufgabe, eine Pflicht, eine Schuldigkeit, er ist auch eine Notwendig keit, ein Zwang, dem – ob es uns gefällt oder nicht – direkt oder indirekt niemand entkommt … Das Tier sieht uns an, und wir stehen nackt vor ihm.
    Stumm zieht das Tier unseren Blick auf sich. Das Tier sieht uns an, und ob wir wegsehen (vom Tier, unserem Teller, unserer Betroffenheit, uns selbst) oder nicht, wir sind ausgesetzt. Ob wir unser Leben ändern oder nichts tun, wir haben reagiert. Nichts zu tun heißt auch, etwas zu tun.
    Vielleicht können unschuldige kleine Kinder dadurch, dass sie sich für bestimmte Dinge nicht verantwortlich fühlen, den stummen Blick eines Tiers freier und leichter als Erwachsene aufnehmen. Vielleicht haben zumindest unsere Kinder noch keine Stellung in unserem Krieg bezogen, sondern nehmen nur die Beute.
    Im Frühjahr 2007 lebte meine Familie in Berlin, und wir verbrachten mehrere Nachmittage im Aquarium. Wir starrten in die Becken – oder zumindest sehr ähnliche Becken –, in die Kafka gestarrt hatte. Mich begeisterten vor allem die Seepferdchen – jene seltsamen, schachfigurartigen Wesen, die sehr oft als Fantasietier dargestellt werden. Seepferdchen gibt es nicht nur als Schachfiguren, sondern auch in Form von Strohhalmen und als Pflanzenschnitt, sie werden zweieinhalb bis gut 25 Zentimetergroß. Ich bin sicherlich nicht der
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