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Tiere essen

Tiere essen

Titel: Tiere essen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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sein – sie ist Teil desselben landwirtschaftlichen Prinzips. Am deutlichsten zeigt sich das bei der Aquakultur, wo Fische wie andere Nutztiere in Gehegen gehalten und »verwertet« werden. Beim Wildfang ist es allerdings nicht besser, denn hier hat man es mit derselben Geisteshaltung und intensiven Nutzung moderner Technologien zu tun.
    Kapitäne von Fischereischiffen sind heute eher Kirk als Ahab. In voll elektronisierten Kontrollräumen beobachten sie die Fische und planen den besten Moment, um ganze Schwärme gleichzeitig einzufangen. Die Kapitäne sehen, wenn ihnen Fische entwischen, und starten dann einen zweiten Durchlauf. Und sie können nicht nur die Schwärme sehen, die sich in einer bestimmten Entfernung von ihren Schiffen befinden. Auf Fischsammelgeräten (FADs, fish-aggregating devices), die über den Ozean verstreut werden, sind zusätzlich GPS – Monitore montiert. Diese GPS – Monitore funken Informationen wie die Anzahl der vorhandenen Fische und die genaue Position der auf dem Wasser treibenden Sammelgeräte in den Kontrollraum des Fischkutters.
    Wenn man sich den kommerziellen Fischfang vor Augen führt – die 1,4 Milliarden Haken, die jährlich an Langleinen eingesetzt werden (an denen jeweils ein Stück Fisch, Tintenfisch oder Delfinfleisch als Köder hängt); die 1200 Netze, jedes fast50 Kilometer lang, die von nur einer Flotte für den Fang von nur einer Art verwendet werden; das Vermögen eines einzigen Schiffs, in nur wenigen Minuten 50 Tonnen Meerestiere einzuholen –, versteht man, dass die modernen Fischer mehr als alles andere Fabrikarbeiter sind.
    In der Fischerei wird buchstäblich und systematisch Kriegstechnologie eingesetzt: Radar, Echolote (früher zur Lokalisierung feindlicher U-Boote), für die Navy entwickelte elektronische Navigationssysteme und seit den 1990er-Jahren satellitengestützte GPS, die Fischern noch nie da gewesene Möglichkeiten bieten, Fisch-Hotspots ausfindig zu machen und abzufischen. Satellitenerzeugte Bilder von Meerestemperaturen werden eingesetzt, um Fischschwärme zu sichten.
    Der Erfolg der Massentierhaltung beruht auf den nostalgischen Bildern, die der Verbraucher von der Nahrungsmittelproduktion hat – der Angler zieht seine Fische an Land, der Schweinebauer kennt jedes seiner Schweine persönlich, der Truthahnzüchter sieht zu, wie die Küken aus den Eiern schlüpfen –, weil diese Bilder sich auf etwas beziehen, das wir achten und dem wir vertrauen. Solche hartnäckigen Bilder sind aber auch die schlimmsten Albträume der Massentierhalter, denn sie haben die Macht, die Welt an etwas zu erinnern: Was heute 99 Prozent der Landwirtschaft bestimmt, hat vor noch gar nicht langer Zeit weniger als ein Prozent ausgemacht. Die Ära der Massentierhaltung könnte irgendwann auch wieder zu Ende gehen.
    Was könnte einen solchen Wandel auslösen? Nur wenige kennen Einzelheiten über die gegenwärtige Fleisch-und Fischindustrie, aber die meisten wissen das Wesentliche – dass mindestens etwas falsch läuft. Die Einzelheiten sind wichtig, werden aber vermutlich die meisten Menschen nicht dazu bewegen, sich zu ändern. Dazu ist etwas anderes vonnöten.

3.
Scham
    ZU WALTER BENJAMINS umfangreichen literaturkritischen Studien gehört auch die eindringlichste Interpretation von Franz Kafkas Tiererzählungen.
    Scham als besonderes moralisches Empfinden nimmt eine zentrale Stellung in Benjamins Kafka-Lektüre ein. Scham hat eine individuelle Seite – wir empfinden sie in der Tiefe unseres Inneren – und gleichzeitig eine gesellschaftliche – wir empfinden sie vor anderen. Für Kafka ist Scham eine Reaktion und eine Verantwortung vor unsichtbaren anderen – einer »unbekannten Familie«, um eine Wendung aus Kafkas Tagebuch zu verwenden. Sie ist die Grundlage des Ethischen.
    Benjamin betont, dass Kafkas Vorfahren – seine unbekannte Familie – auch Tiere umfassen. Tiere gehören zu der Gemeinschaft, vor der Kafka rot werden könnte, und das soll heißen, dass sie ihn moralisch ansprechen. Benjamin erklärt uns auch, dass Kafkas Tiere »Behältnisse des Vergessens« sind, eine Bemerkung, die zunächst verblüfft.
    Ich erwähne diese Einzelheiten, um eine kleine Geschichte einzuflechten, in der Kafka im Berliner Aquarium Fische betrachtet. Kafkas enger Freund Max Brod erzählt sie:
    Da sprach er zu den Fischen in den leuchtenden Käs ten. »Jetzt kann ich euch schon ruhig anschaun, ich esse euch nicht mehr.« Es war die Zeit, in der er stren ger Vegetarianer
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