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Tier zuliebe

Titel: Tier zuliebe
Autoren: Birgit Klaus
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Vorabend des 24. streifen meine Gedanken kurz I., jene ältere Freundin der Familie, die seit mindestens 15 Jahren zusammen mit ihrem Sohn M., einem Vegetarier, Weihnachten bei uns verbringt. I. ist immer für die Appetithäppchen vor dem Essen zuständig und ihre Horsd’œuvres schmecken nicht nur köstlich, sondern sehen auch fantastisch aus: richtige kleine Kunstwerke. Für M. bringt sie immer ein paar rein vegetarische mit. Ich frage mich gerade, ob es sich eigentlich bis zu I. herumgesprochen hat, dass ich nun auch ins Lager der Vegetarier übergetreten bin. Ich fürchte, dass es zu Verteilungskämpfen kommen könnte, wenn zwei Vegetarier sich auf die wenigen vegetarischen Häppchen stürzen. Doch für einen klärenden Anruf ist es zu spät. Am Vorabend, nach 22.00 Uhr, will ich sie deswegen nicht mehr belästigen. Ich spekuliere stattdessen darauf, dass ich allein deswegen nicht zu kurz kommen werde, weil M. traditionell unsere Weihnachtsabende mit der Kamera festhält, und gleichzeitig filmen und essen ist schwierig.
    Am nächsten Tag klingelt es Punkt halb sechs und I. und M. stehen im tiefen Schnee vor der Haustür, bewaffnet mit Schüsseln und Tabletts. Den »letzten Schliff« bekommen die Häppchen immer in der Küche meiner Mutter und das dauert mindestens eine halbe Stunde. Wenn um sechs alle anderen eintrudeln, ist I. fertig und die Tabletts lachen uns an, als wären sie gerade frisch vom Partyservice geliefert worden. Als es so weit ist, gibt es eine Überraschung für mich: I. scheint fast ausschließlich vegetarische Snacks zubereitet zu haben. Nur ein paar wenige Schnittchen mit Fisch sind dabei. Ich schnappe mir eines mit einem Stück Karotte. Doch während ich darauf kaue, wird mir klar, dass ich mich getäuscht habe. Die vermeintliche Karotte erweist sich als Surimi, zusammengepresstes Krebsfleisch. Als ich das herausschmecke, verspüre ich abermals jenes neuartige Gefühl, Ekel. Ich suche eilends nach einer Serviette, denke nur ans Ausspucken. Dabei konnte ich von dem Zeug früher gar nicht genug essen – mit Bergen von Mayonnaise. Ich hatte phasenweise ganze Vorräte im Kühlschrank.
    Ein Versehen, das aber folgenlos bleibt. Der Ekel ist noch nicht so ausgeprägt, dass ich auf die Toilette eilen muss. Nun nutze ich die Gelegenheit, mit M., dem Langzeitvegetarier, über die vielen Jahre zu sprechen, die er als Außenseiter bei uns und mit uns Weihnachten verbracht hat. Immer ließ er lächelnd die weihnachtlichen Fleischorgien über sich ergehen, machte gute Miene zum bösen Spiel – missioniert hat er nie. Sein Vegetariertum war nicht einmal Gesprächsthema am Tisch. Jetzt, da ich weiß, wie man umgeben von Fleischessern is(s)t, bewundere ich ihn dafür. Nun reden wir nach 15 Jahren erstmals darüber, warum und seit wann er kein Fleisch mehr isst. M. erzählt, dass er schon im Alter von vier Jahren zum Vegetarier wurde – heute ist er 43. Und das kam so:
    Als Kind litt M. an einer Tierhaarallergie. Nachdem der Wunsch nach einem flauschigen Haustier unerfüllt bleiben musste, schenkte ihm die Großmutter eine gesundheitlich unbedenkliche Schildkröte. Leider bemerkte sie gleich dazu: »Die füttern wir jetzt zwei Wochen lang mit Petersilie, dann schmeckt sie gut in der Suppe.« Die Tragödie war perfekt. Der vierjährige M. saß in einer Ecke und heulte, die Großmutter in der anderen und lamentierte. Schon kurze Zeit später hielt M. seinen Eltern vor, sie seien »böse«, weil sie Tiere essen, und boykottierte von nun an den Fleischkonsum: erst kein »normales« Fleisch mehr, dann kein Hühnchen, als er älter wurde auch keine Tortengüsse mit Gelatine. Als »Exoten« betrachtete man ihn in den Achtzigern und Neunzigern, wie er mir lachend erzählt. Er erntete verständnislose Blicke seitens der Bedienungen, auf die Nachfrage, ob im Essen Fleischbrühe sei. Wenn die Freunde am Tisch darüber auch noch lachten, fühlte sich der Kellner grundsätzlich auf den Arm genommen. Irgendwann wurde ihm ausgerechnet dieser Rat gegeben: Er solle kein Drama daraus machen und einfach behaupten, er habe eine Allergie.
    Besonders bemerkenswerte Erlebnisse hatte M. im dörflichen Moosbach im Schwarzwald, wo er während seiner Bundeswehrzeit stationiert war. Im sogenannten Szenelokal gab es sogar eine vegetarische Karte, auf der es Angebote gab wie: »Rühreier mit Speck« und »Würstchen mit Kartoffelsalat«. Würstchen und Speck galten für die Betreiber damals eben einfach nicht als »richtiges«
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