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Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt

Titel: Tiamat-Zyklus 3 - Die Sommerkönigin 2 - Die Abkehr der Welt
Autoren: Joan D. Vinge
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Fenster. Sie mußte ihn sehen – dieses eine Mal ... Wenn sie ihn nicht vorher angeschaut hatte, fiel es ihr schwer, in der Öffentlichkeit Gleichgültigkeit zu heucheln und sich hinter einer teilnahmslosen Maske zu verstecken. Zu diesem Treffen war er früh gekommen, und ohne einen seiner Begleiter; so früh, daß selbst ihre Ratgeber noch nicht anwesend waren. Sie war fest davon überzeugt, daß er es nur aus einem einzigen Grund getan hatte – und daß es nicht Fate Ravenglass war, die er unter vier Augen sprechen wollte
...
    Nun betraten drei weitere Leute den Raum – alle Mitglieder ihres Rates. Fate und BZ drehten sich um, und sie konnte sein Gesicht nicht mehr sehen. Während sie ihre Hand gegen das Fenster drückte, fragte sie sich, wann sie diese hartnäckige Sehnsucht nicht mehr spüren würde, den verzweifelten Wunsch, ihn anzuschauen. Nie hätte sie gedacht, daß sie nach so vielen Jahren noch diese intensiven Gefühle empfinden würde. Aber als sie ihm das erste Mal wieder gegenüberstand, begriff sie, daß sie die ganze Zeit über tagtäglich sein Gesicht gesehen hatte – bei ihrem Sohn ... seinem Sohn ...
    Sie biß sich auf die Lippe. Hatte sie deshalb ständig an ihn denken müssen? Oder lebte in ihr nur die Erinnerung an die einzige Nacht, die sie miteinander verbracht hatten? Sie war sich nicht sicher, weshalb sie von ihren Gefühlen für ihn so besessen war. Lag es vielleicht daran, daß sie es nie geschafft hatte, ihre vielschichtigen Emotionen zu entwirren? Wenn sie ihre Ehe, ihre Kinder, die Zukunft ihrer eigenen Welt retten wollte, durfte sie nicht schwach werden; sie durfte sich nie mit ihm allein treffen, bevor sie ihre Gefühle nicht vollständig unter Kontrolle hatte.
    Noch mehr Leute betraten den Raum, dieses Mal Außenweltler, und der Zauber verflog; sie wandte sich von dem Fenster ab. Als sie durch die Tür gehen wollte, stutzte sie; ihr Mann versperrte ihr den Weg. »Funke ...«
    Er spähte an ihr vorbei durch das Fenster; es dauerte eine geraume Weile, ehe er den Blick abwandte. Sie spürte, wie sie rot wurde; in seinen Augen lag ein stummer Vorwurf, doch sie wußte nicht, was sie sagen sollte, denn daß sie spioniert hatte, lag auf der Hand, und herausreden konnte sie sich nicht.
    »Deine Heimlichtuerei kannst du dir sparen«, meinte er angewidert. »Nimm ihn dir ruhig zum Liebhaber, wenn du ihn nach zwanzig Jahren immer noch unwiderstehlich findest.«
    »Das will ich aber nicht.«
    »Was willst du dann? Mit mir kannst du ja auch nichts mehr anfangen.« Er schlug sich mit der Hand auf die Brust. »Seit zwanzig Jahren versuche ich, dich zurückzugewinnen, deine Liebe, deinen Respekt zu verdienen; ich laufe dir hinterher, bettele um jede Berührung, jeden Beweis, daß du dir noch etwas aus mir machst. Aber du hast dich nur immer weiter von mir entfernt ...« Er schüttelte den Kopf. »Die ganze Zeit lang liebtest du eine Erinnerung, das habe ich immer geahnt. Aber solange er eine Erinnerung blieb, konnte ich damit leben ...« Er zeigte auf das Fenster.
»Damit
kann ich nicht leben. Ich ertrage es nicht, ihn zu sehen, beobachten zu müssen, wie du ihn anhimmelst ... Die Wahrheit macht mich krank! Nicht einmal Ariele und Tammis gehören mir. Sie sind seine Kinder!«
    Er wandte sich von ihr ab, und ihr Gesicht nahm einen verzweifelten Ausdruck an. »Das stimmt nicht. Sie waren immer deine Kinder! Und ich war immer deine Frau. Ich liebe
dich ...«
    Wütend starrte er sie an. »Hältst du mich für blind? Oder dumm? Sie sind nicht meine Kinder! Und du bist nicht meine Frau, jedenfalls nicht in einer Weise, die zählt.« Sein Zorn erlosch. »Ich kann nicht mehr. Mach, was du willst ... aber lüg mich nicht mehr an.« Er ging fort, ohne sich einmal umzusehen.
    Allein stand sei da, wie versteinert. Sie konnte sich erst wieder rühren, als seine Schritte verhallt waren. Dann schöpfte sie tief Atem. Sie wandte den Blick von dem leeren Korridor ab und schaute durch das Fenster. Die Gesichter dahinter waren ihr zugekehrt, wie wenn man sie sehen könnte. Vermutlich hatte man ihren Streit bis in der Versammlungshalle gehört. Doch schon drehten sich die Leute wieder um und setzten unschlüssige Mienen auf. Sie fragte sich, wieviel von dem Wortwechsel man wohl verstanden hatte.
    Sie ballte die Fäuste, bis ihre Hände einen Krampf bekamen, und ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Langsam verließ sie ihr Versteck. Gemessenen Schrittes betrat sie die Halle, wo mittlerweile ein Dutzend Leute
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