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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Autoren: Christoph Rehage
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sagt er und lacht. Wir laufen zusammen über die Marktstraße bis zu einem größeren Platz, tauschen Telefonnummern aus und versprechen, uns am nächsten Morgen wieder hier zu treffen. Dann ist er in der Menge verschwunden.
    Ich bleibe einen Moment stehen. Was soll ich nur von diesem Zhu Hui halten? Er hat gesagt, er sei etwas über dreißig, arbeite als Fitnesstrainer in der westchinesischen Provinz Xinjiang, und im Moment fahre er mit seinem Fahrrad hier in der Gegend herum, um Seminare über Kampfkunst zu besuchen. Das Auffälligste an ihm sind sein Bart und seine angenehme Stimme – und die Tatsache, dass er oft und gern lacht.
    Plötzlich machen meine Füße mir mit einem dumpfen Schmerz ihre Freude darüber deutlich, dass ich in der Ecke des Platzes einen Betonklotz mit winzigen Fenstern erspäht habe, auf dem in chinesischen Schriftzeichen das Wort HOTEL prangt. Das muss alles noch aus der Zeit vor der Kulturrevolution stammen , denke ich leicht angegruselt, als ich durch die düstere Eingangshalle zur Rezeption dieses Kaderhotels stolpere, um meinen Pass durch ein winziges Fenster zu schieben. Die Rezeptionistin und ich wechseln kühle Worte und ein paar abgegriffene Geldscheine, dann fülle ich ein Formular aus und bekomme meinen Schlüssel ausgehändigt. Mühsam besteige ich das riesige Treppenhaus und blicke die scheinbar endlosen, menschenleeren Flure hinunter. Ein seltsames Gefühl der Beengtheit lässt mich meine Schritte beschleunigen.
    Als ich mein Zimmer endlich gefunden habe, lasse ich mein Gepäck auf das eine Bett und mich selbst auf das andere fallen, breite die Arme aus und starre für eine Weile bewegungslos an die Decke. In einer Ecke baumelt eine kleine Spinne an einem Heizungsrohr. Zhu Hui ist irgendwo draußen unterwegs, und ich weiß nicht, ob ich ihn morgen oder überhaupt jemals wiedersehe. Den heutigen Abend werde ich auf jeden Fall ungestört für mich allein verbringen können; das bedeutet ein heißes Bad für die Füße und ein paar Stunden Zeit, um Bilder zu sortieren und Texte für meinen Blog zu schreiben. Ob ich die Blasen aufstechen soll, wie damals in Frankreich? Ich richte den Blick zum Fenster hinaus, wo der Himmel langsam alle Schattierungen von Grau bis Tiefschwarz durchgeht. Mit einem Mal wird mir kalt. Wie lange noch, bis der erste Frost kommt?

DIE ZWEI VOM PFIRSICHHAIN
    »Was lange getrennt war, wird sich vereinigen, was lange vereint war, wird sich trennen«, so lautet der erste Satz des berühmten, aus der Ming-Zeit stammenden Romans Die Geschichte der Drei Reiche von Luo Guanzhong.
    Als ich auf dem Platz an der Marktstraße ankomme, steht da schon Zhu Hui mit seinem Fahrrad und grinst. »Guten Morgen, kleiner Lei!«, ruft er lachend über die Menschenmenge hinweg, und ich bemerke überrascht, dass ich mich tatsächlich ein bisschen freue, ihn zu sehen.
    Wir kaufen ein paar Bananen zum Frühstück, dann machen wir uns auf den Weg. »Heute«, verkündet er mit theatralischer Geste, »werde ich mein Fahrrad schieben und zu Fuß gehen, genau wie du, um mal auszuprobieren, wie das so ist!«
    Noch vor dem Ortsausgang machen wir an einer Schule halt, wo auf dem Hof gerade die Morgengymnastik stattfindet. Hunderte, nein Tausende von Jungen und Mädchen stehen mit gespreizten Armen hintereinander aufgereiht, während eine blecherne Lautsprecherstimme Parolen über sie hinwegplärrt. Im Hintergrund qualmen aus einem Schornstein Rauchschwaden in den tiefgrauen Himmel.
    Die Schüler führen langsam die Arme über dem Kopf zusammen, und ich muss an Juli denken. Vor nicht allzu langer Zeit, in einer ähnlichen Schule im grün überwucherten Südwesten des Landes, muss auch sie so dagestanden haben: das Haar zu zwei Zöpfen gebunden, die Arme von sich gestreckt, der Kopf voller Träume. Ob damals schon ihre Idee vom Studium im fernen Deutschland entstanden ist?
    »Hello!« Ein paar Schülerinnen haben uns entdeckt und den Mut aufgebracht, uns auf Englisch anzusprechen. »How are you doing?«, fragen sie, und ich antworte langsam und sehr deutlich: »Fine, thank you.« Auf meine Gegenfrage »And how areyou?« ernte ich jedoch nur ein Kichern hinter vorgehaltener Hand.
    Ein Lehrer tritt hinzu, fragt, was wir hier wünschen, und als ich antworte, wir seien ein Deutscher und ein Japaner, werden wir kurz und bestimmt zu einem kleinen Rundgang durch die Schule eingeladen. Zhu Hui muss sich sichtlich anstrengen, nicht loszulachen, während Hunderte Schüler um uns herumstehen und
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