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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Autoren: Christoph Rehage
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aufgeregt dabei zusehen, wie ich dem Schuldirektor die Hand schüttele, ein paar offiziell anmutende Fotos knipse und mich in Lobhudeleien über die Schule und die Stadt Zhuozhou ergehe.
    Als wir wieder auf der Landstraße sind, prustet Zhu Hui los. »Die dachten echt, ich käme aus Japan! Ha!«
    Dann bleibt er stehen und schaut mich betroffen an: »Du, sag mal, sehe ich wirklich aus wie ein Japaner?«
    Nach nur ein paar Kilometern auf dem staubigen Seitenstreifen der Landstraße kommen wir an einer weiteren Schule vorbei. Hinter einem hohen Zaun am Straßenrand liegt ein mit roten und blauen Filzmatten ausgelegter Platz. Ich sehe Schwerter und Stöcke. Ein bulliger Trainer steht am Rand und gibt seinen Schülern mit einem Stab Anweisungen. Zhu Hui ist entzückt.
    »Eine Kampfkunstschule!«
    Die Jungs und Mädchen, allesamt in Rot-Weiß gekleidet und ungefähr im Grundschulalter, schielen bei ihren Übungen zu uns hinüber. Einige lächeln schüchtern, und das eine oder andere Kichern ist zu hören. Als der Trainer uns bemerkt, verharrt er kurz und winkt uns dann wortlos in das Schulgebäude hinein.
    Es muss ein hartes Leben für die Kleinen hier sein , denke ich, als ich durch die menschenleeren Schlafquartiere im Obergeschoss schleiche. Zhu Hui ist mit den Lehrern unten im Empfangsraum geblieben und unterhält sich mit ihnen über Trainingsmethoden, während ich mit meiner Kamera auf Motivsuche gegangen bin.
    Mir scheint, das Leben der Kinder in dieser Schule besteht im Wesentlichen aus zwei Dingen: Disziplin und Anspruchslosigkeit. Sie schlafen jeweils zu zwölft in einem gefliesten Raum, in dem es außer grünen Stockbetten keine anderen Möbel gibt. Persönliche Besitztümer suche ich vergebens, dafür hängt ein handgeschriebener Stundenplan an der Wand: Wecken um zehn nach sechs, Licht aus um halb neun, und dazwischen ist jede Stunde mit Übungen, Unterricht, Mahlzeiten und Saubermachen verplant. Ein Wochenende gibt es hier nicht, jeder Tag gleicht dem anderen.
    Wie aus dem Nichts taucht ein schüchternes Mädchen hinter mir in der Tür auf. Die Lehrer haben sie zu mir geschickt, damit ich mit ihr ein Interview machen kann. Zhu Hui muss ihnen erzählt haben, ich sei ein Journalist oder so etwas , denke ich und bitte sie der Einfachheit halber erst mal, für ein Foto zu posieren. Sie ist fünfzehn Jahre alt und seit einem halben Jahr an dieser Schule. Ursprünglich sei sie zum Abnehmen hierhergekommen, erklärt sie mir, und, tatsächlich, sie sieht ein bisschen pummelig aus.
    »Früher war ich sehr dick«, sagt sie mit einem scheuen Lächeln, »deshalb haben mich meine Eltern für sechs Monate an diese Schule geschickt.«
    »Und jetzt kannst du bald nach Hause?«
    »Eigentlich schon«, das Lächeln wird breiter, »aber ich bleibe noch. Es gefällt mir hier!«
    Im Empfangsraum ist Zhu Hui mit den beiden Lehrern in eine zigarettenverqualmte Unterhaltung vertieft. Ich bekomme einen Becher Tee und schlendere damit an der Pokalwand entlang, als die Tür aufgeht und der bullige Trainer hereinkommt. Aus der Nähe sieht er mit seinem Bürstenhaarschnitt, den breiten Wangenknochen und dem eckigen Kinn sogar noch brachialer aus als vorhin.
    »Ah, aus Deutschland!«, ruft er, als ich mich vorgestellt habe, und noch ehe der Tee in meinem Becher auf eine trinkbare Temperatur abgekühlt ist, bin ich bereits in eine Diskussion über die Rolle der Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg verwickelt.
    Die Gespräche wiederholen sich immer wieder, seit ich inChina bin: Die Deutschen, das sei ein mächtiges, ein überlegenes Volk gewesen und Hitler ein Visionär! Man habe damals mit hochtechnisierten Waffen an mehreren Fronten gekämpft und letzten Endes trotz allen Heldenmuts verloren. Im Übrigen seien die japanischen Teufel die eigentlichen Übeltäter!
    Als Zhu Hui und ich wenig später wieder auf unserer Landstraße sind und uns über die Theorien des Trainers lustig machen, bin ich froh, dass mein Reisegefährte nicht nur sehr umgänglich ist, sondern zudem auch immer für eine Überraschung gut.
    »Komm, wir gehen einen kleinen Umweg!«, sagt er unvermittelt und deutet auf einen Seitenweg abseits des brausenden Verkehrs. »Da vorn befindet sich der Pfirsichhain des Freundschaftsschwurs – den müssen wir uns unbedingt ansehen!«
    Ich kann es kaum glauben: Diesen legendären Ort aus der Geschichte der Drei Reiche gibt es tatsächlich? Und er soll hier auf unserem Weg liegen, mitten in der nordchinesischen Tiefebene? Vor
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