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The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)

Titel: The Longest Way: 4646 Kilometer zu Fuß durch China (German Edition)
Autoren: Christoph Rehage
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meinem inneren Auge erstehen aus dem Laub Hünen mit Hellebarden und Waffenröcken, mit langen schwarzen Bärten und grimmigen Gesichtern. Als wir auf den birkengesäumten Weg einbiegen, beginnt Zhu Hui begeistert zu erzählen, und schon liegt die brummende Volksrepublik des einundzwanzigsten Jahrhunderts weit hinter uns, und die Luft ist erfüllt vom Hufgetrappel, Kampfgeschrei und Waffengeklirr vergangener Zeiten.
    Im Jahr 184 nach Christus, fast ein halbes Jahrtausend nachdem der berüchtigte Kaiser Qin Shihuang das chinesische Kernland geeint hatte, lag die zweite Dynastie, das Haus der Han, in ihren letzten Atemzügen: Missernten, Überschwemmungen und einfallende Nomadenhorden hatten das Reich in seinen Grundfesten erschüttert. Im kaiserlichen Palast kauerte ein unfähiger Lüstling auf dem Thron, der hilflos im Intrigennetz seiner Berater und Eunuchen gefangen war. Wütende Aufstände brachen überall los, und in den Provinzen erhoben sich Kriegsherren, um die Macht an sich zu reißen.
    Der aus dieser Situation entstehende Bürgerkrieg, der fast einhundert Jahre andauern sollte, fegte die kaiserliche Dynastie hinweg und spaltete das Land in drei verfeindete Lager, die miteinander erbittert um die Macht rangen. Diese Epoche ging später in die chinesische Geschichtsschreibung als »Zeit der Drei Reiche« ein und sollte den asiatischen Kulturraum über fast zwei Jahrtausende hinweg mit Legenden von Schlachten, Strategen und heldenhaften Kämpfern versorgen.
    Wer hätte gedacht, dass die kleine Stadt Zhuozhou mit ihren Birken und Getreidefeldern in dieser Geschichte eine so bedeutende Rolle spielte? Im Frühling ebenjenes Jahres 184 traf hier ein Schuhmacher auf einen Metzger und einen Soldaten. Einer anfänglichen Auseinandersetzung folgte ein Gespräch über die Aufstände, die das Reich bedrohten. Am nächsten Tage kamen die drei im Garten des Metzgers zusammen, ließen Weinbecher kreisen und schworen sich unter den weißen und rosafarbenen Blüten der Pfirsichbäume ewige Treue im Kampf um das Reich. Noch im selben Jahr gründete der Schuhmacher, der aus einem verarmten Adelsgeschlecht stammte und entfernt mit dem Kaiserhaus verwandt war, das westliche der Drei Reiche, den kriegerischen Staat Shu, und machte seinen Namen Liu Bei in ganz China mit Donnerhall bekannt.
    Seine beiden Freunde, General Zhang Fei, der Metzger, der sein Messer gegen einen prachtvollen Schlangenspeer eintauschte, und General Guan Yu, der riesenhafte Bartträger mit der Hellebarde, gingen als legendäre Beispiele für Kampfesmut und Treue in die Geschichte ein.
    Bis heute wird Zhang Fei mit weit geöffneten, kreisrunden Augen abgebildet, um auszudrücken, dass er dem Schlaf zu entsagen gelobte, um seinen Freund und Kaiser Liu Bei rund um die Uhr beschützen zu können. Und Guan Yu ist mittlerweile sogar in den Kreis der Götter aufgestiegen: Millionenfach hängt sein Abbild in den Haushalten und Geschäften Chinas, ein bärtiger Gott des Krieges, der sich im Verlauf der Jahrhunderte zumBeschützer vieler verschiedener Lebensbereiche gewandelt hat und besonders in Südchina eine der beliebtesten Gestalten der Mythologie überhaupt ist.
    »Da vorn ist er – der Ort, wo die drei ihren Wein tranken und sich miteinander verbrüderten!« Zhu Hui zeigt auf eine lange rote Mauer mit einem imposanten Durchgang und grinst. Am Kassenhäuschen sind zwei ältere Herren mit Schachspielen beschäftigt, verkaufen uns aber trotzdem unsere Eintrittskarten und bieten mir obendrein an, auf meinen Rucksack aufzupassen, während wir uns im Tempel aufhalten.
    Tempel?
    In dem großflächigen Hof auf der anderen Seite des Durchgangs steht tatsächlich der Neubau eines Tempelgebäudes, das Zhang Fei gewidmet sein soll. Mit seinen roten Mauern, dem grünen, elegant an den Enden nach oben geschwungenen Dach und der weißen Treppe mit dem zierlichen Geländer ist es nicht einmal unansehnlich, aber es wirkt einfach zu neu und makellos.
    Zhu Hui zeigt auf ein Schild, auf dem PFIRSICHHAIN steht, und tatsächlich gehen wir wenig später zwischen Bäumen entlang, die sich dürr und kahl aus dem Boden erheben wie ausgestreckte Zeigefinger. In ihrer Mitte steht eine Betonplattform, auf der bunte Tonfiguren die drei Helden beim Trinken darstellen sollen. Mit ihren speckigen Mützen und den langen Bärten sehen sie aus wie gigantische Gartenzwerge, und ich muss mir ein Lachen verkneifen.
    »Wo bitte sind denn jetzt die lieblichen Pfirsichblüten aus der Erzählung?«,
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