Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)

Titel: The Bone Season - Die Träumerin (German Edition)
Autoren: Samantha Shannon
Vom Netzwerk:
nass und kalt, ein typischer Abend im März eben. Ich spürte einige Geister. Vor der Zeit von Scion war Seven Dials ein schäbiges Viertel gewesen, und rund um die Säule fand man auch jetzt immer noch jede Menge arme Seelen, die nach einem neuen Daseinszweck suchten. Einige von ihnen rief ich nun zu mir. Ein gewisser Schutz konnte nie schaden.
    In der Gesellschaft der Amaurotiker, also der Nicht-Sehenden, war Scion der Weisheit letzter Schluss. Jeder Bezug auf eine Art Leben nach dem Tod war verboten. Frank Weaver hielt uns für widernatürlich, und wie bereits viele Großinquisitoren vor ihm, hatte er dem Rest der Londoner beigebracht, uns zu verabscheuen. Solange es nicht absolut notwendig war, gingen wir nur zu den Zeiten nach draußen, in denen es sicher war – wenn die NVD schlafen ging und die Tagwache ihren Dienst antrat. Die Beamten der Sunlight Vigilance Division, kurz SVD , waren keine Seher. Außerdem durften sie nicht so brutal vorgehen wie ihre Kollegen von der Nachtwache. Zumindest nicht in der Öffentlichkeit.
    Bei der NVD war das anders, sie waren Seher in Uniform. Sie hatten sich verpflichtet, dreißig Jahre zu dienen, bevor sie eingeschläfert wurden. Manche hielten es für einen Pakt mit dem Teufel, aber er verschaffte ihnen eine dreißigjährige Garantie für ein angenehmes Leben. Die Mehrheit der Seher hatte da weniger Glück.
    In Londons Geschichte hatte es so viele Tote gegeben, dass es schwer war, einen Ort zu finden, der frei war von Geistern. Sie bildeten unser Sicherheitsnetz. Trotzdem musste man hoffen, dass man gute Exemplare erwischte. Benutzte man einen sehr zerbrechlichen Geist, hielt er einen Angreifer nur wenige Sekunden auf. Geister, deren Leben sehr brutal gewesen war, waren am besten. Deshalb erzielten manche Geister auf dem Schwarzmarkt auch so hohe Preise. Jack the Ripper wäre wahrscheinlich Millionen wert gewesen, wenn ihn irgendjemand gefunden hätte. Einige schworen jeden Eid, dass der Ripper in Wahrheit Edward VII . gewesen war – der gefallene Prinz und blutrünstige König. Laut Scion war er der erste Seher gewesen, aber das hatte ich nie geglaubt. Mir behagte die Vorstellung mehr, dass es uns schon immer gegeben hatte.
    Langsam wurde es dunkel. Der Himmel war von blassgoldenen Sonnenstrahlen überzogen, und der Mond zeichnete sich dazwischen verschwommen ab. Direkt darunter ragte die Zitadelle auf. In der Sauerstoffbar auf der anderen Straßenseite, dem Two Brewers , drängten sich die Amaurotiker. Normale Menschen. Die Seher sagten, sie wären mit Blindheit geschlagen, so wie wir angeblich mit Hellsichtigkeit geschlagen waren. Manchmal nannte man sie auch Totaugen .
    Diesen Ausdruck hatte ich nie gemocht, das klang so nach Verwesung. Was irgendwie heuchlerisch war, immerhin waren wir diejenigen, die mit den Toten kommunizierten.
    Ich knöpfte meine Jacke zu und zog die Mütze tief ins Gesicht. Kopf runter, Augen auf – mein persönliches Gesetz, nicht das von Scion.
    »Ein Blick in die Zukunft für einen Shilling. Nur einen Shilling, Ma’am! Vom besten Orakel in London, das verspreche ich Ihnen. Eine Kleinigkeit für einen armen Straßenkünstler?«
    Die Stimme gehörte einem dünnen Mann, der sich in eine ebenso dünne Jacke gewickelt hatte. Ich hatte schon seit Längerem keine Straßenkünstler mehr gesehen. In der Zentralparzelle waren sie selten, da hier die meisten Seher dem Syndikat angehörten. Ich studierte seine Aura. Er war gar kein Orakel, sondern ein Wahrsager, noch dazu ein ziemlich dummer Wahrsager – die Denkerfürsten verachteten Bettler. Zielstrebig ging ich auf ihn zu. »Was glauben Sie eigentlich, was Sie hier machen?« Ich packte ihn am Kragen. »Sind Sie total bescheuert?«
    »Bitte, Miss. Ich habe solchen Hunger.« Seine Stimme war ganz rau, wahrscheinlich vom Flüssigkeitsmangel. Die Zuckungen in seinem Gesicht deuteten auf einen Sauerstoffsüchtigen hin. »Ich habe keinen Stoff. Verraten Sie’s nicht dem Fesselmeister, Miss. Ich wollte nur … «
    »Dann verschwinden Sie.« Ich drückte ihm ein paar Scheine in die Hand. »Ganz egal, wohin … Hauptsache, Sie sind von der Straße weg. Suchen Sie sich einen Schlafplatz. Und wenn Sie morgen weitermachen, betteln Sie gefälligst in Parzelle VI , aber nicht hier. Verstanden?«
    »Vielen Dank, Miss.«
    Er sammelte seine wenigen Habseligkeiten ein, darunter auch eine Glaskugel. Das war billiger als Kristall. Ich sah zu, wie er Richtung Soho davonlief.
    Armer Kerl. Wenn er das Geld in einer
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher