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Teufels Küche

Teufels Küche

Titel: Teufels Küche
Autoren: Ross Thomas
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körperliche Einsatz, außer beim Sex, im großen und ganzen Zeitvergeudung wäre. Es war mindestens zwanzig Jahre her, seit er zum letzten Mal ein Gewehr abgefeuert, einen Rasen gemäht, ein Auto gewaschen, eine Wand angestrichen, einen Fisch gefangen oder einen Ball, gleich welcher Art, geschlagen hatte. Allerdings ging Haere viel zu Fuß, häufig zehn oder gar zwölf Kilometer am Tag. Er ging zu Fuß, weil das eine vernünftige Art und Weise war, um irgendwo hinzugelangen, weil es ihm Gelegenheit bot nachzudenken und weil er einer der großen Sonderlinge des Lebens war.
    Die traurigen braunen Augen, der müde Mund, die fein geformte Nase und das robuste Kinn waren auf irgendeine Weise zu einer Leidensmiene verschmolzen, die viele für ein Anzeichen durchlittener Tragödien hielten, die aber tatsächlich der Ausdruck chronischer Erbitterung war. Wegen dieses fast an einen Heiligen gemahnenden Äußeren war Haere immer der erste, an den vertrauensselige Fremde sich mit ihren Leidensgeschichten wandten oder mit der Frage, wie man am besten nach Disneyland käme. Haere hätte ein Bauernfänger von Weltklasse sein können. Statt dessen war er in die Politik gegangen, auf die Seite, wo Nägel mit Köpfen gemacht wurden, und nahezu alle stimmten darin überein, daß er der Beste war, den es auf seinem Spezialgebiet gab, nämlich Briefe zu schreiben, um dafür als Antwort Geldüberweisungen zu erhalten.
    Als Haere erwachte, fand er, daß es merkwürdig still war, bis er aus dem Fenster sah und feststellte, daß es in der Nacht geschneit hatte – nicht sehr viel, vielleicht knapp fünfzehn Zentimeter, was in Denver kaum etwas bedeutete, weil gewöhnlich die Sonne herauskam und den Schnee bis zur Mitte des Nachmittags schmolz. In New York hätte der Schnee ein Chaos ausgelöst, in Washington Panik und in Los Angeles, also in Los Angeles hätten fünfzehn Zentimeter Schnee auf den Freeways nur den Weltuntergang ankündigen können. In Denver machten die Leute sich nicht einmal die Mühe, Schneeketten anzulegen.
    Haere, der noch die Jockeyshorts trug, in denen er geschlafen hatte, nahm den Topf für drei Tassen und den Pulverkaffee aus seinem Gepäck. Der Topf brachte einen Dreiviertelliter Wasser in weniger als sechzig Sekunden zum Kochen. Haere hatte ihn vor fünf Jahren bei Marshall Field’s in Chicago gekauft, nachdem er zum ersten Mal im Ritz-Carlton für zwei Tassen Zimmerservice-Kaffee 12 Dollar plus Trinkgeld bezahlt hatte. Obwohl ihm bewußt war, daß aus solch kleinen Sparmaßnahmen miesepetrige Junggesellen bestehen, begleitete der Topf ihn jetzt überallhin. Er nahm auch seinen eigenen Becher, Löffel und Zucker mit.
    Nach dem Kaffee, drei Zigaretten, der Rasur und der Dusche zog Haere das an, was er immer trug, einen dreiteiligen blauen Nadelstreifenanzug, fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter, beglich seine Rechnung, drehte sich um und erlebte seinen ersten Schock dieses Tages: das Dreiviertelprofil von Jack Replogle, der im Foyer stand und das tat, was jeder im Brown Palace tut – er blickte in den strahlenden Lichthof hinauf, um den das Hotel gebaut worden war.
    Replogle hatte Gewicht verloren – mindestens zehn Kilo. Er schien sich in seinen Antartex-Mantel hineinzukauern. Er schien auch knapp sieben Zentimeter seiner Größe eingebüßt zu haben, was ihn auf Haeres eigene Größe von einsachtundsiebzig herunterbrachte. Haere erkannte dann, daß Replogle sich vorneigte, zur Seite gebeugt stand und anscheinend nicht aufwärts blicken konnte, indem er den Kopf in den Nacken warf, sondern nur, indem er den Hals verdrehte.
    Replogles tiefliegende grüne Augen waren noch tiefer in ihre Höhlen gesunken, und unter ihnen befanden sich zwei dunkle Streifen. Seine Haut schien die Farbe und die Struktur von Zeitungspapier zu haben. Er war offensichtlich ein kranker Mann, deshalb ging Haere zu ihm hin und tippte ihn auf die Schulter. Als Replogle sich umdrehte, sagte Haere: »Du siehst grauenhaft aus.«
    Obwohl die Schmerzen ihre Spuren tief in das Gesicht eingegraben hatten, sah Haere, daß Replogles Lächeln unverändert das gleiche geblieben war – das Lächeln eines Mannes, der seit langem ein sehr komisches Geheimnis kennt und sich endlich dazu entschlossen hat, es dir und keinem anderen zu offenbaren.
    Replogle musterte Haere sorgfältig von oben bis unten, nickte, als ob er zufriedengestellt wäre oder zumindest eine Bestätigung erhalten hätte und sagte immer noch lächelnd: »Ich brauche dein beschissenes
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