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Tender Bar

Tender Bar

Titel: Tender Bar
Autoren: J.R. Moehringer
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Softballspieler aus dem Dickens zum ersten Mal sah. Ich erinnerte mich an die Spiele der Little League mit McGraw und an unser entscheidendes Wurfspiel, als wir um die zwanzig waren. Ich wurde aus meinen Erinnerungen gerissen, als vier Leute kamen, um Basketball zu spielen – drei Männer in meinem Alter und ein etwa elfjähriger Junge. Der Junge hatte große braune Augen und ein schiefes Lächeln, aber sein Umgang mit den Männern verriet mir, dass er mit keinem von ihnen verwandt war. Sie fingen an, zwei gegen zwei zu spielen. Der Junge, der eine Brille mit dicken Gläsern trug, war nicht sehr geübt, aber schnell und entschlossen; er konnte mithalten. Die Männer wollten nur ein bisschen Bewegung, doch für den Jungen war es eine Erfahrung, die er nie vergessen würde. Vielleicht dachte er genau das und passte deswegen nicht auf, als einer der Männer ihm ohne hinzusehen einen Pass zuwarf. Der Ball traf den Jungen voll ins Gesicht, haute ihm die Brille von der Nase und ließ ihn wie erstarrt dastehen. Die Männer rannten zu ihm. »Alles in Ordnung?«, fragten sie. »Ja«, erwiderte der Junge, lächelte schüchtern und rieb sich die Stelle, wo der Ball einen roten Fleck hinterlassen hatte. »Ach was«, sagte einer der Männer, »der Junge ist zäh«, worauf die anderen Männer klatschten und ihm auf den Rücken klopften. Der Junge sah sie nacheinander an, und in seinem Blick lag eine so intensive Liebe und Dankbarkeit, dass mir die Tränen in die Augen traten.
    Ich ging wieder zum Auto und fuhr zum Shore Drive und betrachtete das Wasser. Der Mann, dem in Manhasset das opulenteste Haus am Wasser gehörte, war bei den Anschlägen umgekommen. Wenige Minuten vor seinem Tod hatte er seine Frau angerufen, und es hieß, seither würde sie einsam in jenem riesigen gatsbyhaften Palast wohnen, verfolgt vom Klang seiner Stimme. Ich nahm die Route, die meine Mutter und ich immer im T-Bird gefahren waren, vom Shore Drive die Plandome Road hoch, zum Shelter Rock; entlang der Strecke sah ich in jedem Fenster amerikanische Flaggen und an sehr vielen Bäumen gelbe Schleifen. Ich fuhr weiter in östlicher Richtung zu Tante Charlene und verbrachte den Nachmittag bei ihr, wir tranken Kaffee und sahen uns ein Video von Tims Abschlussfeier an der University of Syracuse an.
    Auf der Rückfahrt zum Hotel in der wunderschönen Abenddämmerung hörte ich Radio. Der lokale Klassiksender spielte Debussys »Clair de Lune«. Bei diesem Stück, das ich durch Bud kennen gelernt hatte, wurde ich immer schrecklich sentimental. Von Bud wusste ich, dass »Clair de Lune« Debussys musikalisches Porträt vom Mond war, doch plötzlich kam es mir vor wie ein Lied über Erinnerung, über den unheimlichen Klang, den die Vergangenheit verströmt, wenn sie auf uns zurückschlägt. Ich drückte den Abtastknopf und landete bei einem Mann, der erzählte, wie man die »perfekten Cannoli« macht. Er war komisch und erklärte die Rezepte in einem grotesken italienischen Akzent. Ich musste lachen. Es war mein Vater. Wir hatten seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen. Ich hatte zwar gehört, dass er in New York lebte, wusste aber nicht, dass er Sonntagabends eine Kochsendung moderierte. Ich war versucht anzurufen, doch die Versuchung ging vorüber. Drei Wochen später starb er.
    Ich konnte mich nicht überwinden, zu seiner Beerdigung zu gehen, aus vielen Gründen, vor allem aber, weil ich vor keinen offenen Sarg treten konnte. Stattdessen fuhr ich ein paar Tage später nach Calverton zum National Cemetery am östlichen Ende von Long Island, einer Wildnis aus weißen Kreuzen. Es war ein kalter Februartag, vom Ozean her blies ein schneidender Wind. Das Büro war geschlossen, doch über einen Automaten erfuhr ich, wo mein Vater lag: Abschnitt 23, Grabstätte 591. So leicht war er noch nie zu finden gewesen.
    Abschnitt 23 lag im neuen Teil des Friedhofs. Mir wurde flau im Magen, als ich die vielen noch offenen Gräber sah. Ich schlenderte weiter und las Namen, bis ich ein frisch zugeschüttetes Grab erreichte. JOHN JOSEPH MOEHRINGER, PVT, AIR FORCE. Mir hatte mein Vater erzählt, er habe seinen Namen gesetzlich in Johnny Michaels geändert und sei Marineinfanterist gewesen. Zwei Lügen, denen ein Grabstein ein Ende setzte. Ich steckte die Hände in meine Taschen, schlug den Kragen gegen den Wind hoch. Ich sah auf den Namen meines Vaters hinunter, auf die frischen Fußabdrücke der Friedhofsarbeiter, die ihn beerdigt hatten, und wollte etwas sagen, aber es ging
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