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Techno der Jaguare

Techno der Jaguare

Titel: Techno der Jaguare
Autoren: Manana Tandaschwili , Jost Gippert
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denn nun drin?« Sie tippte sich an den Kopf.
    Der Liebhaber warf einen kurzen Blick in das Buch und gähnte.
    »Jährliche Berechnung des Einkommens, Kredite, Bilanzen – alles Excel-Tabellen. Sonst nichts.«
    Das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. ›Dann muss ich ja ziemlich klug aussehen …‹, dachte sie geschmeichelt.
    »Ich muss jetzt los!« Hastig sprang er zu dem Stuhl, auf den er seine Socken und die Krawatte geworfen hatte, und streifte beides umgehend über, während seine Partnerin taktvoll auf ihre Armbanduhr schaute, um sich nicht anmerken zu lassen, dass der Anblick eines nur mit Socken und Schlips bekleideten Mannes nicht gerade ein Augenschmaus war.
    »Punkt elf heute Abend musst du fertig sein!« Sie küssten sich flüchtig in der Tür. »Und wirf dich in Schale: cooles Outfit!«, mahnte er noch.
    »Tino, du bist vielleicht ein Glückspilz!« Eine Freundin kam herein, wie immer up to date. »Und …? Will er dich heiraten?«
    Mit Krediten und Bilanzen war diese Freundin nicht zu beeindrucken.
    »Wieso heiraten? Das würde ich nicht gerade Glück nennen! Wer braucht schon solche ausgeleierten Beziehungen? Ach, was! Er kommt, macht mich glücklich und geht wieder; er kommt und geht einfach. Gerade jetzt ist er wieder gegangen. Er trennt sich nicht von ihr und wird sich auch nicht von ihr trennen. Dann eben nicht, ist mir doch egal!« Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder seine Socken über dem Stuhl hängen, und so versuchte sie es mit einem angenehmeren Gesprächsthema.
    »Schau mal hier!« Sie fasste sich an den Kopf, um die Blätter zu ordnen.
    »Hast du etwa Läääuseeee?« Die Freundin kreischte entsetzt auf, und Tino kreischte mit, aber dann kam sie wieder zu sich.
    »Bist du verrückt? Das fehlte mir noch! Nein, nur einen Bücherwurm!«
    Die Freundin vertiefte sich in das Buch. Mit Tränen in den Augen rasselte sie vor Tino den Inhalt einer Seifenopern-Folge herunter, als handelte es sich um einen Auszug aus der Sonntagszeitung oder aus einem Groschenroman. Es klang ungefähr so:
    »Hand in Hand spazierten sie die Allee entlang. Er, Don Juan, deklamierte inbrünstig, dass er bis jetzt noch keiner Frau seine Liebe erklärt hätte. Dona Silvia schwieg. Der Mann wandte sich ihr mit wilder Entschlossenheit zu und eroberte ihre heißen Lippen. Ihr Körper sehnte sich mehr und mehr nach dem seinen, und sie versuchte, sich zur Vernunft zu rufen. Ihr Ruf blieb ohne Antwort. Die Hand des Geliebten aber schlängelte sich schon in ihr Dekolleté. Plötzlich öffnete sich die Truhe ihrer Erinnerungen und leerte sich über ihr aus, die Ermahnungen ihres Erziehers überschwemmten sie.
    ›Nein, Don Juan! Nein!‹, rief sie vieldeutig aus. ›Du hast mich verraten!‹
    ›Nicht nein, ja!‹ – Der feurige Macho war wie von Sinnen.
    ›Genau das sage ich doch!‹, empörte sich Dona. ›Verräter!‹ – Klatsch!
    Sein Blick wanderte nach oben, zum Mond, der sorglos in den Zweigen der Birken schaukelte.
    ›Du wirst mich niemals wiedersehen!‹, rief er pathetisch und jagte sich seine Machete in die linke Brust. Natürlich besaß er eine Machete, Macho, der er war.
    ›Don-Juan-Giacomo-José-Carlos-Carrera-Alejandro! O nein! Ich bin für immer … dein!‹
    Der Don gab seine Seele Gott zurück und seinen Leib der Fazenda.«
    Die Tränen der beiden Freundinnen flossen wie Bäche, und als das Schluchzen nachgelassen hatte, sagte Tino: »Ja, das ist viel besser.« Sie warf ihrer Freundin einen dankbaren Blick zu. »Mit dem Inhalt kann man sich getrost überall blicken lassen. Komm, lass uns gehen. Ich muss noch kurz bei einer Totenmesse vorbeischauen. Steht es mir, wenn ich das Buch geschlossen trage?«
    »Sieht super aus! Dir steht sowieso alles!« Die Freundin beäugte das kleine Buch in ihrem Nacken.
    »Das lass ich dich ein andermal lesen!« Tino versuchte, sich herauszumanövrieren. Ihr sechster Sinn sagte ihr, dass dieses Büchlein besser ihr Geheimnis bleiben sollte.
    Der Weg zur Totenmesse folgte der Marschroute der Gewerkschaftsdemonstration, vielleicht folgten auch die Gewerkschafter selbst der Straße zum Friedhof, und mit ihrem Marsch produzierten sie unentwegt Verkehrsstaus.
    In Vorbereitung auf die Totenmesse, so um sieben Uhr am Abend, zeigte sich das Buch in einer akademisch-strengen weinroten Färbung unter einer Goldprägung; das Buch in ihrem Nacken bevorzugte eine zarte Blässe mit einem Silbertouch.
    Trotz ihrer hohen Absätze fing sie an zu laufen – um einen Ausweg zu finden.
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