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Taqwacore

Taqwacore

Titel: Taqwacore
Autoren: M Knight
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geradewegs lynchen. Jehangir sah es und schrie ins Mikrofon. Bilal’s Boulder machten weiter. Jehangir schrie noch einmal. Die Leute, die um die Kämpfenden herumstanden, machten hektische Anstalten, sie auseinanderzubringen. Jehangir schrie wieder. Dann blickte er zu One Trip Abroad, wieder auf die Kämpfenden und dann – ich kann mich irren, aber ich schwöre, er tat es – zu mir. Er stürzte sich direkt von der Bühne auf sie und versank augenblicklich in einem Hagel von Schlägen und Tritten, im Gedränge und Gerempel, in einer Masse von verzerrten Gesichtern, gebleckten Zähnen, Augen, in denen Angst und Wut zugleich stand, ineinander verkrallten Menschen, deren Arme überallhin flogen, weil es mittlerweile jedem egal war, wen er dabei traf. Irgendjemand packte Jehangir von hinten und alle stürzten sich auf ihn. Umar kletterte von der anderen Seite des Intercontinental auf die Bühne, rannte herüber und warf sich dazwischen. Mir kam es vor, als würde ich zusehen, wie die beiden, Jehangir und Umar, unter all den Stiefeln und Händen in der Menge ertranken. Umar hielt sich tapfer und wehrte Bilal’s Boulder mit beiden Fäusten ab. Die Scheinwerfer rotierten weiter – sie wussten es nicht besser. Rot, Blau, Gelb. Als ich Jehangir Tabari zum letzten Mal sah, waren er und die Menge, die ihn zerfetzte, ganz in Grün getaucht. Dann war er verschwunden.

 
     
     
    Kapitel X
     
     
    Der weltliche Löwe
    sucht nach Beute und
    Futter
    Der Löwe des Herrn
    sucht die Freiheit
    und den Tod.
    –  Dschalal ad-Din Rumi
    Eines Morgens wachte ich früh auf, sah, dass es noch dunkel war, und rollte mich aus dem Bett. Ich ging ins Badezimmer und drehte den Hahn auf, aber ließ das Licht aus. Wusch mir die Hände. Die Arme bis zu den Ellenbogen. Spritzte Wasser auf meine Nase und meinen Mund. Wusch mir das Gesicht und die Ohren. Den Hals. Die Füße. Ging zurück in mein Zimmer. Legte ein Handtuch auf den Boden und stellte mich darauf, die Füße parallel ausgerichtet. Hielt den Rücken gerade. Atmete durch den Mund ein. Spürte, wie die kalte Luft beim Ausatmen warm wurde.
    »Allahu Akbar«, sagte ich. Dann betete ich mein Al-Fadschr.
    Es war schon eine Woche her, und die Urne mit Jehangirs Asche stand immer noch in unserem Wohnzimmer. Keiner wusste, was sein Letzter Wille gewesen war. »An die Westküste fahren und sie in den Pazifik streuen«, sagte Umar zwischen den Zähnen hindurch, sein Kiefer war immer noch verdrahtet.
    »Durch die Nase ziehen wie Stiv Bators«, sagte Amazing Ayyub. Ich hatte die Urne einmal geöffnet und die Asche berührt. Sie war härter und fester, als man erwarten würde, es war eigentlich gar keine Asche, es waren lauter kleine Stücke.
    Kleine Stücke von einem Menschen.
    Und das in diesem Gefäß war Jehangir. Jehangir, der sich wie ein Schahid kopfüber von der Bühne gestürzt hat. Jehangir, der den trunkenen Straßen predigte. Jehangir, der jetzt da oben bei den Huris in einer ausgehöhlten Perle sitzt, die einen Durchmesser von 100 Kilometern hat. Jehangir, der besoffene Muezzin mit der elektrischen Gitarre, der uns alle zum berauschten Gebet ruft. Jehangir, der meinen Islam an seine äußersten Grenzen gebracht hat. Jehangir, der rastlose Cowboy-Felache. Jehangir, der Stern, der zwanzigtausend noch unbekannten Wegen des Glaubens leuchtet. Jehangir, der Champ, der uns allein ließ, wie es Hussein auf dem blutgetränkten Sand von Kerbela getan hatte. Jehangir, dessen Helden Malcolm X und Johnny Cash waren. Jehangir, der Straßenpunk und Anarchist, der auf seinen Glauben pisste und dann trotzdem für ihn gestorben ist. Jehangir, der Urdu, Paschtu, Pandschabi und etwas Farsi sprach und dazu noch sechs Dialekte seiner eigenen Sprache. Jehangir, der nächste große Dichter des Punk nach Patti Smith und Jim Carroll. Jehangir, der pakistanische Walt Whitman. Jehangir, der magere Südasiate mit der goldenen Haut und dem gelben Irokesen. Jehangir, der Inbegriff von Eloquenz. Jehangir, die Verkörperung von Tod und Liebe bei der 69, das muss man sich mal vorstellen! Der Tod mit dem Schwanz der Liebe im Mund und umgekehrt. Jehangir, der zu Halloween als Hulk Hogan ging. Jehangir mit seinem düsteren James-Dean-Blick, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sein Kampf jemals ein heiliger Dschihad oder überhaupt ein Krieg war. Jehangir, der Feminist, der trotzdem ein unbekümmerter Hurenbock war. Jehangir, auf dem die traurige und schmerzvolle Geschichte von vierzehn Jahrhunderten lastete, und der
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