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Tanz unter Sternen

Tanz unter Sternen

Titel: Tanz unter Sternen
Autoren: Titus Mueller
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war, »ich habe dich als Barfußtänzerin angekündigt. Eine Ballerina brauche ich hier nicht. Deine Tanzdramaturgie ist zu kompliziert, verstehst du? Beim Varieté müssen wir mit starken Reizen arbeiten. Was du da machst, ist zu schwierig.«
    »Sie haben mich doch in den Proben gesehen. Gefällt es Ihnen nicht mehr?« Dieses Zittern in ihr! Senta hatte es tatsächlich geschafft, sie zu verunsichern.
    »Die Menschen wollen sich im Wintergarten amüsieren. Sie wollen Rausch, sie wollen Freude. Du musst mit deinen Reizen ihre Gier nach nackter Haut befriedigen.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Du hast alles, was ein Mädchen braucht, warum zeigst du es nicht?«
    »Ich werde noch mehr üben. Und ich kann Seide anlegen, das wird den Männern gefallen.«
    »Tu das. Arbeite an deinem Kostüm. Und denk daran: weniger Kunst, mehr Körper! Ich will deinen Po und deine Brust sehen.« Energisch riss er die Arme hoch und schrie in Richtung Bühne: »Wo sind die Seelöwen? Deine Zeit ist um, Franz, wir haben sechzehn Nummern heute Abend, es müssen sich noch elf andere warmmachen!«
    Die Welt hinter dem Vorhang leuchtete und flimmerte nicht, sie war nüchtern. Was für die Zuschauer ein Zauber war, ein märchenhaftes Vergnügen, bedeutete für die Artisten Knochenarbeit. Das wusste Nele. In den Jahren als Gehilfin hatte sie Zeit gehabt, sich an den rauen Ton im Wintergarten zu gewöhnen, an den lüsternen Direktor, an die Ansprüche.
    Heute aber tat ihr alles weh. Die Haut ihrer Seele fühlte sich wund an, durch die Anspannung war sie verletzlicher als sonst. Es war ihr großer Tag. Sie stand im Programm, zum ersten Mal war der Name Nele Stern an die Litfaßsäulen angeschlagen.
    Für dich, Senta, dachte sie, werde ich besonders gut sein. Dein spöttisches Lachen wird dir im Halse stecken bleiben.
    Wenn er gefragt wurde, wie Gott das Böse zulassen konnte, antwortete Matheus immer, die Menschen seien dafür selbst verantwortlich. Schließlich hatte Gott ihnen Willensfreiheit verliehen, und die wäre wertlos, wenn er nur gute Taten zuließ, die bösen aber jedes Mal verhinderte. Nur: Was konnte das Mädchen für ihre Diphtherie? Welcher Mensch trug die Schuld daran? Dass Gott Kriege zuließ und Schläge und Lügen, das verstand er. Warum aber verhinderte er nicht solche ungerechten Krankheiten?
    Seufzend stand er auf und streckte sich. Sein Rücken schmerzte, und der Mund war trocken. Matheus ging in die Küche, goss sich Sinalco in ein Glas und trank. Die Limonade war teuer, und während er schluckte, litt er deswegen Gewissensbisse. In seiner Kindheit hatte es Limonade nur zu besonderen Anlässen gegeben. Um sich zu beruhigen, dachte er an die Mineralsalze und Fruchtsäuren, die seinem Körper gut taten, zumindest wenn man der Reklame glaubte.
    Es war still in der Wohnung. Er trat in den Flur. Hatte er Samuel nicht erst vor einer Stunde zum Spielen nach draußen geschickt? Wieso hingen Jacke und Mütze an der Garderobe? Er sah in Samuels Zimmer. Der Siebenjährige kniete an seiner Sitzbank, ein Blatt Papier vor sich, und malte.
    »Setz dich doch an den Tisch«, sagte Matheus. »Das ist bequemer.«
    »Ja«, sagte Samuel. Er blieb, wo er war. Sein blasses Gesicht ließ ihn oft kränklich aussehen, die Haut war beinahe durchsichtig. Samuel war ein Träumer, ein stilles Kind, das man leicht übersah. Er war so unauffällig, dass Matheus befürchtete, ihn eines Tages in einem Geschäft in der Stadt zu vergessen und erst am nächsten Tag zu bemerken, dass er fehlte. Nicht, dass er ihn nicht liebte, nein, er liebte ihn sehr! Aber der Kleine forderte nichts, er war mit allem zufrieden, was er bekam.
    Matheus ging zu ihm und streichelte ihm den Kopf. »Was malst du denn?«
    »Das ist der Schnee, den eine Dampflok aufwirbelt. Wenn sie im Winter fährt.«
    Auf dem Blatt sah man hellblaue Wolken, die Lok dahinter war mit wenigen Bleistiftstrichen angedeutet, sie ließ sich nur erahnen. »Das Bild ist dir gut gelungen, Samuel.« Andere Kinder malten Rennautomobile, sein Sohn malte Schneeflocken. »Wollen wir spielen?«
    Ungläubig sah Samuel auf.
    »Ich habe ein bisschen Zeit. Wie wäre es, wenn wir Mehl aus der Küche holen und es auf den Boden schütten, und dann fahren wir mit deiner Spielzeuglok hindurch?«
    »Wir spielen Winter!« Samuel sprang auf und brachte die Mehldose ins Zimmer. Vorsichtig schütteten sie Häufchen auf den Boden. Der Junge holte die Blechlokomotive aus dem Spielzeugschrank, sie sah neu aus, ihre Oberfläche war frei
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