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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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beansprucht.«
    »Zeit«, sagt Nora bitter. »Wirst du je wiederkommen?«
    »Werd ich, wenn ich kann«, sagt mein Vater.
    »Bring die Kinder mit. Bring deine Frau mit.«
    »Ja, werd ich«, sagt mein Vater. »Werd ich, wenn ich kann.«
    Als sie uns zum Auto folgt, sagt er: »Du komm uns auch mal besuchen, Nora. Wir wohnen direkt in der Grove Street, auf der linken Seite, wenn man reinkommt, also nach Norden fährt, das zweite Haus ostwärts von der Baker Street.«
    Nora wiederholt diese Instruktionen nicht. Sie steht in ihrem weichen, leuchtenden Kleid dicht am Auto. Sie berührt den Kotflügel, hinterlässt in dem Staub darauf ein unverständliches Zeichen.
    Auf dem Heimweg kauft mein Vater uns kein Eis und auch keine Limo, aber er geht in einen Dorfladen und holt ein Päckchen Lakritze, das er mit uns teilt. Sie kratzt mit dem falschen Fuß, denke ich, und die Worte kommen mir mit einem Mal traurig vor, dunkel, schlimm. Mein Vater verbietet mir mit keinem Wort, zu Hause etwas zu erzählen, aber ich weiß, allein von der Bedenkzeit, bevor er die Lakritze herumreicht, dass es etwas gibt, das nicht erzählt werden soll. Der Whisky, vielleicht auch das Tanzen. Keine Sorge wegen meines Bruders, der merkt nicht genug. Der erinnert sich höchstens an eine blinde alte Dame, an ein Bild von Maria.
    »Sing«, befiehlt mein Bruder meinem Vater, aber mein Vater sagt ernst: »Ich weiß nicht, was, mir sind gerade die Lieder ausgegangen. Pass genau auf und sag mir, wenn du auf der Straße Kaninchen siehst.«
    Und so fährt mein Vater, während mein Bruder nach Kaninchen Ausschau hält und ich ein Empfinden habe, als fließe das Leben meines Vaters aus unserem Auto in den schwindenden Nachmittag, werde dunkel und fremd, wie eine Landschaft, auf der ein Bann liegt, der sie freundlich, normal und vertraut macht, sie jedoch, sobald man ihr den Rücken kehrt, in etwas verwandelt, das man nie kennen wird, mit Wetter aller Art und mit Entfernungen, die man sich nicht vorstellen kann.
    Als wir uns Tuppertown nähern, bildet sich am Himmel eine dünne Wolkendecke, wie immer, fast immer, an Sommerabenden am See.

Die leuchtenden Häuser
    Mary saß auf den Stufen zur Hintertür von Mrs. Fullertons Haus und unterhielt sich – das heißt, eigentlich hörte sie ihr eher zu – mit Mrs. Fullerton, bei der sie Eier kaufte. Sie war vorbeigekommen, um ihr das Eiergeld zu bringen, und wollte anschließend zu Ediths Geburtstagsfest für Debbie fahren. Mrs. Fullerton machte keine Besuche und lud auch nicht dazu ein, aber sobald sich ein geschäftlicher Vorwand ergab, unterhielt sie sich gerne. Und Mary ertappte sich dabei, wie sie das Leben ihrer Nachbarin auskundschaftete, so wie sie früher das Leben von Großmüttern und Tanten ausgekundschaftet hatte – indem sie vorgab, weniger zu wissen, als sie in Wahrheit schon wusste, und sich nach einer Begebenheit erkundigte, von der sie bereits gehört hatte; auf diese Weise zeigten sich erinnerte Episoden jedes Mal mit kleinen Unterschieden an Inhalt, Farbe und Bedeutung, jedoch mit einer so ungetrübten Sicht der Dinge, wie sie normalerweise nur bei solchen möglich ist, die zumindest teilweise bereits Legende sind. Sie hatte schon fast vergessen, dass es Menschen gibt, deren Leben so gesehen werden kann. Sie redete nicht mehr oft mit alten Leuten. Die meisten Menschen, die sie kannte, waren wie sie selbstin einer Lebensphase, in der sich die Dinge noch nicht geklärt haben und es nicht sicher ist, ob dieses oder jenes ernst genommen werden muss. Mrs. Fullerton kannte keine Zweifel oder Fragen solcher Art. Wie war es zum Beispiel möglich, den breiten, unbekümmerten Rücken von Mr. Fullerton nicht ernst zu nehmen, als er an einem Sommertag die Straße hinunter verschwand, auf Nimmerwiedersehen?
    »Das wusste ich nicht«, sagte Mary. »Ich dachte immer, Mr. Fullerton ist tot.«
    »Er ist ebenso wenig tot wie ich«, sagte Mrs. Fullerton und richtete sich auf. Ein kühnes Huhn spazierte über die unterste Stufe, und Marys kleiner Sohn Danny stand auf, um vorsichtig die Verfolgung aufzunehmen. »Er ist einfach wieder auf Reisen gegangen. Vielleicht hoch in den Norden, vielleicht in die Staaten, was weiß ich. Aber er ist nicht tot. Das hätte ich gespürt. Er ist auch noch nicht alt, nicht so alt wie ich. Er war mein zweiter Mann, er war jünger. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Ich hatte dieses Haus und habe meine Kinder großgezogen und meinen ersten Mann begraben, lange bevor
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