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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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Mr. Fullerton die Bühne betrat. Ha, einmal standen wir im Postamt zusammen am Schalter, und ich ging rüber, um einen Brief einzuwerfen und ließ meine Tasche liegen, und Mr. Fullerton will mir nachgehen, und das Mädchen hinterm Schalter ruft ihm zu: Hallo, Ihre Mutter hat ihre Handtasche liegen lassen!«
    Mary lächelte als Antwort auf Mrs. Fullertons hohes und ein wenig unsicheres Gelächter. Mrs. Fullerton war alt, wie sie gesagt hatte – älter, als man denken würde, angesichts ihrer immer krausen und schwarzen Haare, ihrer schlampigen, bunten Kleidung, der billigen Broschen an ihrem sich aufräufelnden Pullover. Ihre Augen zeigten es, schwarz wie Backpflaumen, mit einem weichen, leblosen Schimmer; die Dinge versanken in ihnen, ohne dass sie sich je veränderten. Das Leben in ihrem Gesicht hatte sich ganz in die Nasen- und Mundpartie zurückgezogen, in der es immer zuckte und flatterte, so dass sich tiefe, grimassenhafte Falten um ihren Mund herunterzogen. Wenn sie jeden Freitag die Eier vorbeibrachte, dann waren ihre Haare frisch gelockt, ihre Bluse mit einem Sträußchen aus Baumwollblumen geschmückt und ihr Mund angemalt, ein krakeliger, heftiger roter Strich; sie mochte sich ihren neuen Nachbarn nicht als trauriges altes Lotterweib zeigen.
    »Sie dachte, ich bin seine Mutter«, sagte sie. »Hat mir nichts ausgemacht. Ich hab herzlich gelacht. Aber was ich Ihnen erzählen wollte«, sagte sie, »an einem Sommertag, Mr. Fullerton war da arbeitslos. Er hatte die Leiter aufgestellt und pflückte für mich die Kirschen von meinem Schwarzkirschbaum. Ich kam raus, um Wäsche aufzuhängen, und da war dieser Mann, den ich noch nie im Leben gesehen hatte, der nahmden Eimer mit Kirschen, den mein Mann ihm runterreichte. Er nahm sich davon, nicht heimlich, er setzte sich hin und aß Kirschen aus meinem Eimer. Wer ist das, fragte ich meinen Mann, und er sagte, nur einer auf der Durchreise. Wenn er ein Freund von dir ist, sagte ich, kann er gerne zum Abendessen bleiben. Wovon redest du, sagte er, ich hab den noch nie gesehen. Also hab ich nichts weiter gesagt. Mr. Fullerton ist gegangen und hat mit ihm geredet, während der die Kirschen aß, die für den Kuchen waren, aber dieser Mann redete mit allen, mit Landstreichern, Zeugen Jehovas, einfach mit jedem – das musste nichts bedeuten.«
    »Und eine halbe Stunde, nachdem der Kerl verschwunden ist«, sagte sie, »da kommt Mr. Fullerton raus mit seiner braunen Jacke an und seinem Hut auf. Ich muss mich mit jemand in der Stadt treffen. Wie lange wird das dauern, hab ich gefragt. Ach, nicht lange. Und so ging er die Straße runter, dahin, wo früher die Straßenbahn fuhr – hier war ja noch halbe Wildnis –, und aus irgendeinem Grund hab ich ihm nachgeschaut. Ihm muss doch heiß sein in der warmen Jacke, hab ich gedacht. Und da wusste ich, dass er nicht zurückkommt. Obwohl das völlig unerwartet kam, es gefiel ihm hier. Er hat davon geredet, hier Chinchillas zu züchten. Was ein Mann im Kopf hat, weiß man nicht mal, wenn man mit ihm zusammenlebt.«
    »Ist das lange her?«, fragte Mary.
    »Zwölf  Jahre. Meine Söhne wollten damals, dass ich alles verkaufe und zur Miete wohne. Aber ich habe nein gesagt. Ich hatte meine Hühner und zu der Zeit auch eine Ziege. Die war wie ein Haustier. Auch eine Weile lang einen zahmen Waschbären, den habe ich immer mit Kaugummis gefüttert. Ehemänner mögen kommen und gehen, habe ich gesagt, aber ein Ort, an dem man fünfzig Jahre lang gelebt hat, ist was anderes. Habe zu meinen Söhnen einen Witz daraus gemacht. Außerdem dachte ich, wenn Mr. Fullerton je zurückkommt, dann kommt er hierher, wo soll er sonst hin? Natürlich würde er mich inzwischen kaum finden, so, wie sich alles hier verändert hat. Aber ich hatte immer die Vorstellung, vielleicht hat er das Gedächtnis verloren, und es kehrt irgendwann zurück. Das ist schon vorgekommen.«
    »Ich beklage mich nicht. Ob ein Mann nun bleibt oder geht, manchmal kommt mir beides vernünftig vor. Ich habe auch nichts gegen Veränderungen, das hilft meinem Eierhandel. Aber dieses Kinderhüten. Andauernd fragt mich die eine oder andere, ob ich auf ihre Kinder aufpassen kann. Ich sage immer, ich habe genug damit zu tun, auf mein Haus aufzupassen, und genug Kinder habe ich auch schon großgezogen.«
    Mary fiel wieder das Geburtstagsfest ein, sie stand auf und rief ihren kleinen Sohn. »Ich dachte, nächsten Sommer biete ich meine Schwarzkirschen zum Verkaufan«, sagte
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