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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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weit vor in die tiefer gelegenen Stellen. So – er demonstriert es und drückt seine Hand mit gespreizten Fingern auf den harten Boden, auf dem wir sitzen. Seine Finger hinterlassen kaum einen Abdruck, und er sagt: »Na ja, in der guten alten Polkappe steckte eben wesentlich mehr Kraft als in meiner Hand.« Und dann ging das Eis zurück, zog sich zum Nordpol zurück, von dem es gekommen war, hinterließ seine Eisfinger in den Senken, die es sich gegraben hatte, deren Eis wurde zu Seen, und da sind sie also jetzt. Sie sind jung, zeitlich gesehen. Ich versuche, diese Ebene vor mir zu sehen, Dinosaurier, die herumspazieren, aber ich kann mir nicht einmal das Seeufer vorstellen, als die Indianer hier lebten, vor Tuppertown. Der winzige Anteil, den wir an der Zeit haben, erschreckt mich, auch wenn mein Vater ihn mit Gelassenheit zu betrachten scheint. Sogar mein Vater, der mir manchmal so vorkommt, als sei er von Anbeginn der Welt in ihr zu Hause, hat in Wirklichkeit nur ein klein bisschen länger gelebt alsich, im Vergleich zur Gesamtheit des Lebens auf der Erde. Er hat ebenso wenig wie ich eine Zeit gekannt, in der es noch keine Automobile und kein elektrisches Licht gab. Er war noch nicht am Leben, als dieses Jahrhundert begann. Ich werde kaum noch am Leben sein – alt, uralt –, wenn es endet. Ich mag nicht daran denken. Ich wünsche mir, dass der See immer nur ein See bleibt, mit seinen Bojen, dem Wellenbrecher und den Lichtern von Tuppertown.
    Mein Vater arbeitet als Vertreter für Walker Brothers. Das ist eine Firma, die fast ausschließlich auf dem Lande verkauft, im Hinterland. Sunshine, Boylesbridge, Turnaround – das gehört alles zu seinem Gebiet. Dungannon, wo wir früher gewohnt haben, nicht, Dungannon liegt zu nah bei der Stadt, und dafür ist meine Mutter dankbar. Er verkauft Hustensaft, Eisentinktur, Hühneraugenpflaster, Abführmittel, Tabletten gegen Frauenbeschwerden, Mundwasser, Shampoo, Einreibemittel, Heilsalben, Zitronen-, Apfelsinen- und Himbeersirup für Erfrischungsgetränke, Vanille, Speisefarben, schwarzen und grünen Tee, Ingwer, Nelken und andere Gewürze, Rattengift. Er hat ein Liedchen darüber gemacht, mit folgenden beiden Zeilen:
    Furunkel, Kropf und Wespenstich,
    Die Kur für all das hab nur ich.
    Kein sehr komisches Lied, fand meine Mutter. Das Lied eines Hausierers, und genau das ist er, ein Hausierer, der an die Küchentüren von Hinterwäldlern klopft. Bis zum letzten Winter hatten wir unser eigenes Unternehmen, eine Fuchsfarm. Mein Vater züchtete Silberfüchse und verkaufte ihre Felle an Leute, die daraus Mäntel, Stolen und Muffe anfertigten. Die Preise fielen, mein Vater machte weiter und hoffte, dass sie im nächsten Jahr wieder stiegen, aber sie fielen weiter, und er machte noch ein Jahr weiter und noch eins, und schließlich war es nicht mehr möglich, weiterzumachen, wir schuldeten alles der Futtermittelfirma. Ich habe meine Mutter das mehrere Male Mrs. Oliphant erklären hören, die einzige Nachbarin, mit der sie redet. (Mrs. Oliphant war auch einmal etwas Besseres, eine Lehrerin, die dann den Pedell heiratete.) Wir gaben alles hinein, was wir hatten, sagt meine Mutter, und es ist uns nichts geblieben. Viele Menschen könnten das in diesen Zeiten sagen, aber meine Mutter hat keine Augen für die nationale Katastrophe, nur für unsere. Das Schicksal hat uns in eine Straße der armen Leute verschlagen (es spielt keine Rolle, dass wir auch davor schon arm waren, das war eine andere Art von Armut), und sie kann das nur auf ihre Weise hinnehmen, mit Würde, verbittert, unversöhnlich. Kein Badezimmer mit löwenfüßiger Badewanne und Wasserklosett wird sie darüber hinwegtrösten, nicht das fließende Wasser ausdem Hahn, der Bürgersteig vor dem Haus und die Milch in Flaschen, nicht einmal die beiden Kinos, das Restaurant Venus und die prächtige Woolworth-Filiale, wo in von Ventilatoren gekühlten Ecken richtige Vögel singen und in grünen Aquarien Fische schwimmen, so winzig wie Fingernägel und so leuchtend wie Monde. Meine Mutter kümmert das nicht.
    Nachmittags geht sie oft ins Lebensmittelgeschäft Simon und nimmt mich mit, damit ich ihr tragen helfe. Sie hat ein gutes Kleid an, marineblau mit Blümchen, hauchdünn, über einem marineblauen Unterkleid. Auch einen Sommerhut aus weißem Stroh, ein wenig schräg, und weiße Schuhe, die ich gerade erst auf der Hintertreppe auf einer Zeitung geweißt habe. Ich bin frisch frisiert, meine Haare sind zu feuchten Locken
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