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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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habe«, sagt mein Vater. Die Frau sammelt alle Handtücher vor ihr auf und hält sie fest, drückt sie an ihren Magen, als tue er weh. »Dich hätte ich nun wirklich nicht erwartet. Und dann sagst du mir auch noch, du bist der Mann von Walker Brothers.«
    »Tut mir leid, wenn du dich auf George Golley gefreut hast«, sagt mein Vater bescheiden.
    »Und schau mich an, ich wollte gerade den Hühnerstall ausmisten. Du wirst denken, das ist eine Ausrede, aber es stimmt. In dieser Aufmachung laufe ich nicht alle Tage rum.« Sie trägt einen Farmerstrohhut, durch den kleine Sonnentupfen dringen und auf ihrem Gesicht schweben, einen weiten, schmutzigen Kittel aus bedrucktem Kattun und Turnschuhe. »Wer sind die im Auto, Ben? Doch nicht etwa deine?«
    »Ich hoffe und glaube sehr, es sind meine«, sagt mein Vater und nennt unsere Namen und unser Alter. »Kommt, ihr könnt aussteigen. Das ist Nora, Miss Cronin. Aber jetzt sag mal, Nora, muss es immer noch Miss Cronin heißen, oder hast du einen Ehemann im Holzschuppen versteckt?«
    »Wenn ich einen Ehemann hätte, würde ich ihn woanders aufbewahren, Ben«, sagt sie, und beide lachen, sie abrupt und etwas unwirsch. »Ihr müsst ja denken, dass ich keine Manieren habe, noch dazu, wo ich rumlaufe wie eine Landstreicherin«, sagt sie. »Kommt rein, aus der Sonne raus. Im Haus ist es kühl.«
    Wir gehen quer über den Hof (»Entschuldigt, wenn wir hintenrum reingehen, aber ich glaube, die Vordertür ist seit Papas Beerdigung nicht mehr aufgemacht worden, und ich habe Angst, sie fällt aus den Angeln«), die Verandastufen hinauf in die Küche, die tatsächlich kühl ist, mit hoher Decke, die Rouleaus natürlich heruntergelassen, ein schlichter, sauberer, verwohnter Raum mit gebohnertem, abgetretenem Linoleum, Geranientöpfen, Trinkwasserkübel mit Schöpfbecher und einem runden Tisch unter abgescheuerter Wachstuchdecke. Trotz der Sauberkeit, den sorgfältig abgewischten Oberflächen, hängt ein säuerlicher Geruch in der Luft – vielleicht von dem Spüllappen oder dem zinnernen Schöpfbecher oder der Wachstuchdecke oder der alten Dame, denn da ist eine, sitzt in einem Sessel unter der Küchenuhr an der Wand. Sie wendet uns den Kopf zu und fragt: »Nora? Haben wir Besuch?«
    »Blind«, erklärt Nora rasch meinem Vater. Dann: »Du kommst nie drauf, wer da ist, Mama. Hör mal seine Stimme.«
    Mein Vater tritt an ihren Sessel, beugt sich vor und sagt aufmunternd: »Guten Tag, Mrs. Cronin.«
    »Ben Jordan«, sagt die alte Dame ohne Überraschung. »Du hast uns schon die längste Zeit nicht mehr besucht. Warst du außer Landes?«
    Mein Vater und Nora sehen sich an.
    »Er ist verheiratet, Mama«, sagt Nora fröhlich und etwas bissig. »Verheiratet, hat zwei Kinder, und hier sind sie.« Sie zieht uns nach vorn, damit jeder von uns die trockene, kühle Hand der alten Dame berührt, während sie jeweils unsere Namen nennt. Blind! Zum ersten Mal sehe ich von nahem jemanden, der blind ist. Ihre Augen sind geschlossen, die Lider eingesunken, als seien keine Augäpfel mehr darunter, nur leere Höhlen. Aus einer Höhle rinnt ein silbriger Tropfen, eine Medizin oder eine wundersame Träne.
    »Ich gehe mir ein anständiges Kleid anziehen«, sagt Nora. »Rede mit Mama. Dann freut sie sich. Wir kriegen hier kaum je Besuch, was, Mama?«
    »Sind nicht viele, die herfinden«, sagt die alte Dame friedlich. »Und die früher hier waren, unsere alten Nachbarn, da sind viele von weg.«
    »Tja, so geht’s überall«, sagt mein Vater.
    »Wo ist denn deine Frau?«
    »Zu Hause. Sie mag die Hitze nicht besonders, dann geht’s ihr nicht gut.«
    »Je nun.« Eine Angewohnheit der Leute vom Lande, der alten Leute, sie sagen »je nun« und meinen »ist wahr?«, wollen damit höfliche Anteilnahme bekunden.
    Noras Kleid, als sie wiederkommt – auf hohen Absätzen laut die Treppe heruntersteigt –, ist heftiger geblümt als alles, was meine Mutter besitzt, grün und gelb auf braunem Grund, aus einer Art von schwebendem, hauchdünnem Krepp, ohne Ärmel. Ihre bloßen Arme sind mächtig, und jedes Stück ihrer Haut, das man sehen kann, ist mit kleinen dunklen Sprenkeln bedeckt wie mit Masern. Ihre Haare sind kurz, schwarz, dicht und kraus, ihre Zähne sehr weiß und kräftig. »Ich habe nie gewusst, dass es grüne Mohnblumen gibt«, sagt mein Vater und schaut dabei auf ihr Kleid.
    »Du würdest staunen, was du noch alles nicht weißt«, sagt Nora, die bei jeder Bewegung Eau de Cologne-Duft verströmt und ihre
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