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Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten
Autoren: Greg Bear
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Klodeckel hoch und übergab mich. Dann hielt ich mir die Nase zu und ging ins Wohnzimmer. Meine Beine gaben unter mir nach, und ich fiel abrupt auf die Couch.
    Nach einer Stunde durchsuchte ich Vergils Küche und fand Bleichmittel, Ammoniak und eine Flasche Jack Daniel’s. Ich ging ins Bad zurück und gab mir Mühe, Vergil nicht direkt anzuschauen. Ich goß erst den Schnaps, dann das Bleichmittel und dann das Ammoniak ins Wasser. Chlorblasen begannen aufzusteigen, und ich ging hinaus und machte die Tür hinter mir zu.
    Das Telefon klingelte, als ich nach Hause kam. Ich nahm nicht ab. Es hätte das Krankenhaus sein können. Oder Bernard. Oder die Polizei. Ich konnte es direkt vor mir sehen, wie ich der Polizei alles erklären mußte. Genetron würde mauern; Bernard würde nicht zu erreichen sein.
    Ich war erschöpft. All meine Muskeln waren verkrampft vor Anspannung oder wie immer man die Gefühle bezeichnen will, die einen befallen, wenn man…
    Völkermord begangen hat?
    Das kam mir alles andere als real vor. Ich konnte nicht glauben, daß ich gerade hundert Billionen intelligenter Lebewesen ermordet hatte. Daß ich eine ganze Galaxis ausgelöscht hatte. Es war lächerlich. Aber ich lachte nicht.
    Es fiel mir überhaupt nicht schwer zu glauben, daß ich gerade einen Menschen getötet hatte, einen Freund.
     
    Der Rauch, die geschmolzenen Leuchtstoffröhren, das herabhängende, rauchende Kabel.
    Vergil.
    Ich hatte die Höhensonne zu Vergil in die Wanne geworfen.
    Mir war übel. Träume, Städte, die Gail vergewaltigten (und was war mit seiner Freundin Candice?). Wasser, das mit diesen Geschöpfen durch den Abfluß rauschte. Galaxien, die auf uns alle herabregneten. Was für ein Horror! Dann wiederum: was für eine potentielle Schönheit – eine neue Art von Leben, Symbiose und Transformation.
    Hatte ich genug getan, um sie alle umzubringen? Ich geriet einen Moment lang in Panik. Morgen, dachte ich, werde ich sein Apartment sterilisieren. Irgendwie. Ich verschwendete nicht einen Gedanken an Bernard.
    Als Gail zur Tür hereinkam, lag ich schlafend auf der Couch. Ich wachte groggy auf, und sie blickte auf mich herunter.
    »Alles in Ordnung mit dir?« fragte sie und hockte sich auf den Rand der Couch. Ich nickte.
    »Was gibt’s heut abend zu essen?« Mein Mund funktionierte nicht richtig. Die Worte waren ein Brei. Sie fühlte mir die Stirn.
    »Du hast Fieber, Edward«, sagte sie. »Sehr hohes Fieber.«
    Ich taumelte ins Bad und schaute in den Spiegel. Gail war dicht hinter mir. »Was ist?« fragte sie.
    Unter meinem Kragen zogen sich Linien um den Hals. Weiße Linien, wie Autobahnen. Sie waren schon lange in mir drin. Tagelang.
    »Feuchte Hände«, sagte ich. Es war so offensichtlich.
    Ich glaube, wir wären beinahe gestorben. Zuerst kämpfte ich dagegen an, aber nach ein paar Minuten war ich schon zu schwach, um mich zu bewegen. Eine Stunde später war Gail genauso krank.
    Ich lag schweißgebadet auf dem Teppich im Wohnzimmer. Gail lag mit kalkweißem Gesicht und geschlossenen Augen auf der Couch, wie eine Leiche im Einbalsamierungsraum. Eine Weile dachte ich, sie sei tot. So krank ich war, ich tobte innerlich vor Wut – ich verspürte Haß und ein ungeheures Schuldgefühl, weil ich so schwach war, weil ich so lange gebraucht hatte, um alle Möglichkeiten zu erfassen. Dann kümmerte es mich nicht mehr. Ich war zu schwach, um zu blinzeln, also schloß ich die Augen und wartete.
    In meinen Armen und Beinen war ein Rhythmus. Mit jedem Pulsschlag wallte so etwas wie ein Klang in mir auf. Es hörte sich wie ein tausend Mann starkes Orchester an, in dem jedoch nicht alle dasselbe Stück spielten, sondern die Symphonien ganzer Spielzeiten zugleich. Musik des Blutes. Der Klang oder was immer wurde härter, aber koordinierter, Wellenzüge, die sich schließlich gegenseitig annullierten, bis Stille herrschte, und sich dann in harmonische Schwebungen trennten.
    Die Schwebungen schienen mit mir, mit dem Klang meines Herzens zu verschmelzen.
    Zuerst dämpften sie unsere Immunreaktionen. Der Krieg – und es war ein Krieg auf einer Stufe, wie es ihn auf der Erde noch nie gegeben hatte, mit Billionen von Kombattanten – dauerte schätzungsweise zwei Tage.
    Als ich wieder soweit bei Kräften war, daß ich an den Wasserhahn in der Küche herankam, konnte ich fühlen, wie sie an meinem Gehirn arbeiteten, wie sie den Code zu knacken und den Gott im Protoplasma zu finden versuchten. Ich trank, bis mir schlecht war, dann trank ich in
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