Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tangenten

Tangenten

Titel: Tangenten
Autoren: Greg Bear
Vom Netzwerk:
Sie kam nach Hause und schrieb die Dinge, die sie gedacht hatte, nieder.
    Dieses Schuljahr war das schlimmste. Einhundertzwölf Schüler von ihrer Schule starben. Weitere zweihundert wurden sehr krank.
    John Fayette starb.
    Die Drama-Klasse machte weiter, aber es wurden keine Aufführungen gegeben. In der Schule war es ruhig. Viele Schüler waren von der Schule genommen worden; Letitia sah zu, wie die Hysterie wuchs, hörte das Gerücht, daß es sich um eine Seuche handle, nicht um einen VEK-Fehler.
    Es war keine Seuche.
    Nationenweit erkrankten zwei Millionen Kinder. Eine Million starb.
    Ohne die gesamte Tragweite zu verstehen, las Letitia, daß es sich um die größte Katastrophe in der Geschichte der Vereinigten Staaten handelte. Aufrührer zerstörten VEK-Zentren. Frauen, die mit VEK-Babys schwanger waren, forderten Abtreibungen. Die Rifkin-Gesellschaft wurde zu einer politischen Macht mit beträchtlichem Einfluß.
    Jeden Tag nach der Schule hörte sie sich die Nachrichten an. Alles in ihrem Leben schien bedeutungslos. Ihre Familie war gesund. Sie wuchsen normal auf.
    Am Ende eines Schultags, zwei Wochen vor dem Abschluß, kam Edna Corman auf sie zu. »Können wir reden?« fragte sie. »Irgendwo, wo es ruhig ist.«
    »Sicher«, sagte Letitia. Sie waren keine engen Freunde geworden, aber sie fand Edna Corman erträglich. Letitia nahm sie mit in den alten Waschraum und dort standen sie, umgeben vom Widerhall der weißen Fliesen.
    »Du weißt, alle, ich meine, jeder der älteren Leute, starren mich, starren uns an«, sagte Edna. »So, als wenn wir jede Minute umkippen würden. Es ist wirklich schlimm. Ich denke nicht, daß ich krank werde, aber… Es ist so, als… als fürchteten sich die Leute, mich anzufassen.«
    »Ich weiß«, sagte Letitia.
    »Warum?« sagte Edna mit zitternder Stimme.
    »Ich weiß nicht«, sagte Letitia. Edna stand mit schlaff herunterhängenden Händen vor ihr.
    »War es unsere Schuld?« fragte sie.
    »Nein. Du weißt das.«
    »Bitte sag es mir.«
    »Was soll ich dir sagen?«
    »Was wir tun können, um es in Ordnung zu bringen.«
    Letitia blickte sie für einen Augenblick an, dann breitete sie die Arme aus, nahm sie an den Schultern und zog sie näher an sich heran, umarmte sie. »Erinnere dich«, sagte sie.
     
    Fünf Tage vor dem Abschluß fragte Letitia Rutger, ob sie bei der Zeremonie eine Rede halten könne. Rutger saß hinter seinem Schreibtisch, verschränkte die Arme und sagte: »Weshalb?«
    »Weil es einige Dinge gibt, die niemand sagt«, erklärte Letitia. »Und sie sollten gesagt werden. Wenn kein anderer darüber reden will, dann…« – sie schluckte schwer. -»vielleicht kann ich es.«
    Er betrachtete sie einen Moment lang zweifelnd. »Du denkst wirklich, du hast etwas Wichtiges zu sagen?«
    Sie blickte ihn an. Nickte.
    »Schreib die Rede auf«, sagte er. »Zeig sie mir.«
    Sie zog ein Stück Papier aus der Tasche. Er las es sorgfältig, schüttelte seinen Kopf – aus Ablehnung, dachte sie zuerst – und gab es ihr zurück.
     
    Letitia Blakely wartete in den Kulissen darauf, auf die Bühne zu gehen. Sie lauschte auf das gedämpfte Murmeln der jugendlichen Menge in der Festhalle. Sie mied den Spot neben dem Vorhang.
    Rutger agierte als Conferencier. Die Festlichkeiten waren düster, kraftlos. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als würde sie einen schrecklichen Fehler begehen. Sie war zu jung, um diese Dinge zu sagen; es würde sich schrecklich unbeholfen anhören, sogar kindisch.
    Rutger machte seine Eröffnungsbemerkungen, stellte sie dann vor und forderte sie auf, zum Pult zu kommen. Letitia ging absichtlich durch das Licht des Scheinwerfers neben dem Vorhang, verweilte kurz, schloß ihre Augen und atmete tief ein, als wolle sie in sich aufnehmen, was immer von Reena noch da war. Sie ging an Miss Darcy vorbei, die sie anstarrte.
    Ihre Kehle schnürte sich zu. Sie rieb sich unauffällig den Hals, blinzelte zu den grellen Lichtern auf dem Beleuchtungsgerüst und versuchte, die Gesichter jenseits der Lichter zu sehen. Sie waren lediglich Flecken in einer großen Dunkelheit. Aus den Augenwinkeln erblickte sie Miss Darcy, die ihr zunickte. Geh weiter.
    »Es war für uns alle eine schlechte Zeit«, begann sie mit hoher und kratziger Stimme. Sie räusperte sich. »Ich habe viele Freunde verloren, genau wie Sie. Vielleicht haben Sie Söhne und Töchter verloren. Ich denke, selbst von dort aus, wo Sie sitzen und mich sehen, können Sie erkennen, daß ich nicht… entworfen bin. Ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher