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Tal ohne Sonne

Tal ohne Sonne

Titel: Tal ohne Sonne
Autoren: Heinz G. Konsalik
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warum sind Sie in dieses mörderische Land gekommen?«
    »Ich suche jemanden«, sagte Leonora und nahm alle Kraft zusammen. »Ich suche meinen Vater.«
    »Hier?«
    »Ja. Vor zehn Jahren ist er in einem dieser Täler verschwunden. Er war mit einem Flugzeug unterwegs, und wir vermuten, er ist hier abgestürzt.«
    Die Stimme hinter dem Felsen bekam einen anderen Klang. Jetzt war ein Ton in ihr, ein Klang, nicht mehr das hohle Sprechen. Leonora preßte die Hände gegen ihr Herz und starrte Zynaker an, als bekäme sie keine Luft mehr.
    »Wie heißen Sie?« fragte die Stimme.
    »Leonora«, stammelte sie. »Leonora Patrik. Mein Vater nannte mich immer Nora.«
    »Nora …«
    Hinter dem Felsen entstand ein Rascheln, dann tauchte eine Gestalt auf, in einem verschmutzten, an vielen Stellen geflickten Khakianzug, ein Kopf, von dem wie ein Wasserfall weit über die Schultern hinaus lange weiße Haare fielen. Die Gestalt trug einen ebenso langen weißen Bart. Ihre Haut war von der Sonne gegerbt, braun und runzelig, und zwei blaue Augen schienen nicht die nächste Umgebung wahrzunehmen, sondern blickten wie in die Ferne. Auch an Leonora ging der Blick vorbei ins Unendliche. »Nora …«, sagte der Unbekannte noch einmal. »Hat er das gesagt?«
    »Vater!« Es war ein wilder Aufschrei. Leonora stürzte auf den Mann zu, warf sich an seine Brust und vergrub ihr Gesicht in die schmutzige, zerrissene Jacke.
    Zynaker und Schmitz preßten die Lippen zusammen und wandten sich ab. Schon beim ersten Blick erkannten sie, daß da ein Mensch, aber nicht mehr James Patrik stand. Es würde furchtbar werden, wenn auch Leonora das früher oder später begriff. Noch hielt sie ihren Vater umarmt, weinte vor Glück und Freude an seiner Brust, streichelte seinen Rücken, preßte sich an ihn und gab sich ganz dem überwältigenden Gefühl hin, ihn gefunden zu haben, ihn, der für tot gegolten, an dessen Tod sie aber nie geglaubt hatte. Ihr Gefühl hatte sich bestätigt. James Patrik lebte, lebte als ›Geist der donnernden Wolken‹ im ›Tal ohne Sonne‹. Und in ein paar Wochen würde es die ganze Welt erfahren: James Patrik lebt!
    Patrik stand steif wie eine Statue und ließ sich umarmen, küssen und streicheln. Er legte nicht den Arm um seine Tochter, er sagte kein Wort zu ihr, er erwiderte ihre Küsse nicht, er zeigte überhaupt keine Regung in seinem faltigen, lederartigen Gesicht. Auch als Leonora ihn losließ, zu ihm aufblickte, zu diesem vom weißen Haar umwallten Kopf, und sagte: »Vater, nun ist alles gut! Jetzt kehren wir in die Heimat zurück. Vater, ich habe Medizin studiert, ich werde in einem Krankenhaus arbeiten, und du kannst in aller Ruhe und ohne Sorgen an deinen Büchern schreiben«, verzog er keine Miene, sondern blickte über sie hinweg in die Ferne.
    »Vater!«
    James Patrik schwieg. Nur einmal fiel sein Blick kurz auf Leonora, aber es war, als betrachte er einen fremden Gegenstand. Zynaker trat von hinten an Leonora heran und legte tröstend die Arme um sie.
    Sie starrte ratlos ihren Vater an und begann zu zittern. »Warum sagt er nichts?« stammelte sie. »Donald, warum sieht er mich nicht an?«
    »Sei ganz ruhig, mein Liebling. Bleib ganz ruhig. Nimm all deine Kraft zusammen«, sagte er und küßte ihren Nacken. Sie lehnte sich gegen ihn, und ihr Zittern wurde stärker. »Dein Vater hat schlimme Jahre hinter sich: allein in dieser gnadenlosen Wildnis, ohne mit einem Menschen sprechen zu können, immer in Gefahr, von den Kopfjägern entdeckt zu werden, wie ein Tier lebend, zehn einsame Jahre – das verändert einen Menschen.«
    »Aber ich bin doch seine Tochter! Er muß mich doch erkennen! Er hat Nora gesagt, so wie früher, als ich noch ein Kind war. Donald, erkennt er mich denn nicht?« Sie wollte wieder zu Patrik hin, aber Zynaker hielt sie fest. »Vater … Vater, ich bin Nora … Vater, sieh mich doch an … Mein Gott«, sie begann zu schluchzen, »was ist aus dir geworden?«
    »Der ›Geist der donnernden Wolken‹«, sagte Schmitz und bemühte sich, Haltung zu wahren. »Leonora, nimm dein Herz ganz fest in deine Hände. Er … er weiß nicht mehr, daß er dein Vater ist. Er weiß überhaupt nicht mehr, wer er ist. Die Einsamkeit, der Urwald, das ›Tal ohne Sonne‹, die Hitze und die Feuchtigkeit – diese ganze grüne Hölle hat ihn vernichtet. Er lebt, er ißt und trinkt und schläft – das ist aber auch alles. Leonora, wir müssen das erfassen, wir können nicht vor der Wahrheit davonlaufen oder sie nicht sehen
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