Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Autoren: Fritz J. Raddatz
Vom Netzwerk:
und Geschnetzeltes – war um 18 Uhr vorbei!
    26. April
    Beerdigung vom alten «Papa» Pisarek, hat mich ungeheuer aufgewühlt – wobei, wie immer bei Tod, man nie genau weiß, ob man nicht nur um sich selbst heult. Hier ist das gewiß sehr stark: Ich bin immer bei «meinen» Beerdigungen – Bernd, Eckfried – der «Eigentliche»; gleichzeitig habe ich hinten zu sitzen, der Fremde, der ja nicht wirklich zur Familie gehört. So war’s auch hier. Für Ruth war ich der Bezugspunkt; noch in der kleinen Kapelle, neben ihr saß ihr Mann, schaute sie sich wie ertrinkend nach mir um. So weinte ich am jüdischen Grab, zu jüdischen Klageliedern, wohl auch um mein «falsch gelebt» – und zwar doppelt: Einmal war es ja in gewisser Weise mein Schwiegervater, den ich da mit Käppchen auf dem Kopf beerdigte, der mir als jungem Mann in herrlichem Jiddisch Thomas Manns Joseph-Romane auf Hiddensee vorgelesen hatte, wo ich mit der verliebten Ruth im Gras lag und Angst hatte, sie «zu nehmen». (Was auch nie klappte; ein Tucholsky-Mary-Syndrom?) Diese Frau, diese «mögliche Familie», die da jetzt ihre ist – sähen meine/unsere Söhne so aus oder sehr anders? –, könnte meine sein. Zum anderen auch «falsch gelebt», so anders-allein: als Ruth – im Arbeitszimmer ihres Mannes mit mir alleine – erzählte, wie der Vater sie, sie den Vater geliebt hatte, wie er im Koma sie «Mama» genannt hatte, wie er in der Familie gestorben sei, die aber auch seine Liebe erfahren hatte; wie sie selber sagt, daß sie ist, was sie ist, durch ihn, weil seine Liebe ihr Selbstbewußtsein gegeben hatte, Liebesfähigkeit ihrerseits – da fragte ich schon: Und ich? Und mir? Wer hat das je mir gegeben? Kommt daher ihre großzügige Uneitelkeit und meine übertriebene, die ja inzwischen Menschen verprellt? Selbstbestätigung und Unbestätigtsein? Und das wird nun durch Papier ersetzt, möglichst Selbstbeschriebenes, Selbstbedrucktes? Es war auch die Beerdigung unserer Jugend. Wieviel Leichtsinn, wieviel Fröhlichkeit, Unbelastetheit, Frechheit haben wir drei – sie, Georgi und ich – geteilt, ob jubelnd ohne Führerschein betrunken am Wannsee oder bei Katja nach der Lenya-Platte tanzend, Georgi immer gerade von einer anderen Flamme – noch bettwarm – kommend. Heute stand da ein grauhaariger Familienvater mit Tränen in den Augen. Bin vom Friedhof geflüchtet ins Kempi wie in eine Wagenburg – jetzt Kaffee und Kuchen mit Freunden: das nicht. Werde bald Ruth alleine sehen, wollen müssen. Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn …
    21. Juli
    Nach einem Tag bei Claude Lévi-Strauss in einem Château (!) in Burgund sehr verwirrt wieder hier, verwirrt, weil: ich mich eben doch an jenen 20. Juli erinnerte, an dem Eckfried starb und an dem ich auch ein «Interview» – nämlich mit Walter Mehring – hatte; am selben Datum Bernd Geburtstag hat; und weil ich mir dieses Gesprächs überhaupt nicht sicher bin. Ich habe buchstäblich Wochen in die Vorbereitung investiert, war – und bin – immer wieder hin- und hergerissen, weil seine Gedanken einerseits hochstaplerisch-reaktionär wirken, andererseits sehr überzeugend. Bahnt sich da in mir selber eine wachsende Bereitschaft zu reaktionärem Denken an? Nicht im täglichen «Geschäft» angesichts des Kohl-Deutschland: aber in den «tiefen» Einsichten, z. B. der Vergeblichkeit allen Tuns, der Unsinnigkeit, wirklichen Kontakt, eine wirklich sich gegenseitig befruchtende menschliche Beziehung haben zu können. Dazu kam – bis zur Schlaflosigkeit am Vor-Abend in Paris, vor Nervosität – das Sprach- handicap . In Wahrheit ist es ja die reine Hochstapelei, daß ich mit meinem kümmerlichen Küchenfranzösisch ein solches Gespräch führe. Was treibt mich überhaupt zu solchen Eskapaden – warum MUSS ich den Herrn Lévi-Strauss interviewen, der doch meine ureigenste Arbeit garnicht betrifft? Ist es ein ewiges «Penis zeigen», ein – noch immer – Ausruf: «Ich bin der Größte», jenes alberne «Außen-gesteuert-Sein», das schon Rousseau (den ich zu meinem größten Vergnügen bei der Vorbereitung las) verächtlich verurteilte? Immer noch und immer wieder «das ungeliebte Kind», das sich eine Ersatzliebe durch Bestätigung holt und dabei sozusagen vorm Schokoladeklauen (i. e. «falsche Interviews» machen als Süßigkeitenersatz) nicht zurückscheut?
    28. Juli
    In mir eine zitternde Unruhe, die ich nicht «lokalisieren» kann. Es kann eine innere «Umbruch»-Situation sein; gestern den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher