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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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Bilder sehen, die man mir vor die Augen hält; aber es erreicht mich nicht. Die tödliche Not, die eigene, verengt mein Bewußtsein auf einen Punkt. Vielleicht sind manche Gespräche darum so schwierig; es erweist sich als unmenschlich, wenn man von einem Menschen erwartet, daß er über seine eigenen Ruinen hinaussehe. Solange das Elend sie beherrscht, wie sollen sie zur Erkenntnis jenes anderen Elendes kommen, das ihr Volk über die halbe Welt gebracht hat? Ohne diese Erkenntnis jedoch, die weit über die bloße Kenntnis hinausgeht, wird sich ihre Denkart nie verwandeln; sie werden nie ein Volk unter Völkern, was unsrer Meinung nach das eigentliche Ziel ist. Für ein Volk, das nur sich selber sieht, gibt es bloß zweierlei: Weltherrschaft oder Elend. Die Weltherrschaft wurde versucht, das Elend ist da. Und daß es gerade dieses Elend ist, was eine Erlösung aus jener Denkart abermals verhindert, das als das Trostlose –.
     
    Was geschehen müßte?
    Das erste ist Nahrung, die allerdings auch bei den Siegern teilweise fehlt, und das andere, was man vorschlagen möchte, wäre die Erlaubnis für junge Deutsche, daß sie für einige Zeit in andere Länder reisen können. Viele sind zwar schon draußen gewesen; sie kennen die Normandie und den Kaukasus, aber nicht Europa; sie lernten alles nur als Sieger kennen. Jedenfalls ist es nicht möglich, daß sie in ihrem Land, selbst wenn sie das Verlangen danach haben, zu einer Übersicht gelangen können; es fehlen ihnennicht nur die Nachrichten, es fehlt die Entfernung; sie sehen die Besatzung, deren Fehler sie als eigenes Alibi verwenden, und fast niemand, der dort lebt, entgeht diesen augenscheinlichen Verwechslungen von Ursache und Folge. Anderseits zeigt es sich fast ohne Ausnahme, daß junge Deutsche, die ein halbes oder ein ganzes Jahr in einem andern Land sind, vieles anders sehen, und sicher können es nur Deutsche sein, die es den Deutschen sagen.

Zu Marion
    Einmal geht Marion durch eine Ausstellung, betrachtet die Bilder eines Malers, den er kennt, und kaum hat er die kleine Galerie verlassen, will es der Zufall, daß er eben diesem Maler begegnet. Es ist jener Mann, den sie den Scharlatan nennen. Er fordert Marion zu einem schwarzen Kaffee, und so sitzen sie denn unter den vertrauten Bögen, rauchen vor sich hin und plaudern allerlei, dieweil die Leute vorübergehen. Es ist später Nachmittag, die letzte Sonne; das lichte Glühen der Ziegel, der Duft von frischem Kaffee, das alles wäre sehr schön, sehr lebenswert. Der Maler aber weiß, daß Marion gerade aus der Galerie kommt, weiß, daß Marion seine neuen Arbeiten betrachtet hat, und das Peinliche besteht darin, daß die Dinge, die man mit Vorsicht beschweigt, immer lauter werden. Es läßt sich nicht aufhalten. Ob sie trinken und über die braune Tasse hinaus auf die Gasse blicken, ob sie abermals rauchen oder lachen oder von einem ernsthaften Geschwür sprechen, im Grunde tun sie nur eines:
    Sie schweigen über die Ausstellung.
    Der Scharlatan vermutet natürlich, daß Marion seine neuen Arbeiten nicht mag, und das Schweigen geht ihm nachgerade auf die Nerven, was Marion durchaus spürt, sogar versteht, zumal er manchmal auch die andere Rolle spielt, und zwar an diesem selben Tischlein, wenn man seine Puppen beschweigt. Man denkt: So rede doch schon! Es ist nicht angenehm, eine Verneinung auszusprechen. Man fürchtet, daß man dem anderen weh tut; in gewissem Grad wird es auch so sein, und dennoch wärees unumgänglich, denkt Marion, und sogar ausführbar, sofern wir zu seiner Arbeit auch nur einmal ein bejahendes Verhältnis hatten, irgendwo. Fast nicht anzubringen ist es natürlich, wenn man alles, was der Scharlatan macht, ablehnen muß; sogar seine Bemühungen, seine Ziele. So aber, wie Marion sich früher über die Aquarelle äußerte, gäbe es viele Wege, die augenblickliche Verneinung auf eine annehmbare Weise auszusprechen.
    »Übrigens«, so könnte Marion sagen: »habe ich eben Ihre neuen Arbeiten gesehen –.«
    Und er könnte dazu eine Zigarette anbieten.
    »Für meine Person, ich muß es gestehen, habe ich Ihre kleinen Aquarelle lieber. Ich weiß nicht, wie Sie sich selber dazu stellen? Vor allem erinnere ich mich an ein Blatt –.«
    Das ließe sich anhören. Wenn auch nicht wie Engelsharfen … Aber Marion bietet nur die Zigarette an, und was sich kaum anhören läßt, ist das vollkommene Schweigen, es ist nicht selbstverständlich, es ist ein Krampf, jedenfalls, und das Quälende besteht
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