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Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Tagebuch 1946-1949 (German Edition)

Titel: Tagebuch 1946-1949 (German Edition)
Autoren: Max Frisch
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Sammetaugen. Sie schreiten auf den Platz hinaus, wo die Linden stehen, linksum und rechtsum, Trommeln, sie stehen, abermals Trommeln, sie schwingen die Clairons, und jedesmal, wenn sie das wieder machen, blinkt es in der Abendsonne wie Stricknadeln. Ich betrachte ihre weißen Gamaschen, ihre weißen Gürtel, ihre weißen Handschuhe; Marseillaise am Bodensee. Und abermals Trommeln, abermals Fanfaren, abermals Stricknadeln, eine Hochzeit zwischen Operette und Kaserne, vorzüglich, aber unwahrscheinlich.

Café de la Terrasse
    Erst in Zeiten, wo die Arbeit uns wieder verlassen hat, zeigt es sich deutlicher, warum man, wenn irgend es geht, überhaupt arbeitet; es ist das einzige, was uns am Morgen, wenn man jäh und wehrlos erwacht, vor dem Schrecken bewahrt; was uns in dem Labyrinth, das uns umgibt, weitergehen läßt; es ist der Faden der Ariadne –.
    Ohne Arbeit:
    Das sind die Zeiten, wo man kaum durch die Vorstädte gehen kann, ohne verbraucht zu werden von dem Anblick ihrer formlos wuchernden Versteinerung. Die Art, wie ein Mensch ißt oder lacht, einer, der uns nichts angeht; die Art, wie einer in der Straßenbahn jedesmal vor der Türe stehenbleibt, wenn andere aussteigen wollen, es kann uns an der Menschheit verzweifeln lassen, und irgendein nächster Fehler, ein eigner, bringt uns vollends um die Zuversicht, daß es ein Gelingen jemals geben kann. Das Große und das Kleine unterscheiden sich nicht mehr; beides ist einfach nicht leistbar. Das Maßlose der Angst. Erschlagen stehen wir vor jeder Nachricht von Elend, von Unordnung, von Lüge, von Unrecht –
    Anderseits:
    Wenn auch nur die Form eines einzelnen Satzes gelingt, der scheinbar nichts mit allem gemein hat, was ringsum geschieht – wie wenig das Uferlose uns anhaben kann, das Gestaltlose im eigenen Innern und rings in der Welt! Das menschliche Dasein, plötzlich erscheint es lebbar, ohne weiteres, wir ertragen die Welt, sogar die wirkliche, den Blick in den Wahnwitz: wir ertragen ihn in der wahnwitzigen Zuversicht, daß das Chaos sich ordnen lasse, fassen lasse wie ein Satz, und die Form, wo immer sie einmal geleistet wird, erfüllt uns mit einer Macht des Trostes, die ohnegleichen ist.

Zu Marion
    Etliche, als der Puppenspieler sich erhängt hat, nennen ihn einen Ästheten, weil er so sehr des Spieles bedurfte, der Form, um leben zu können – weil er so nahe am Chaos wohnte.

Nachtrag zur Reise
    Im großen ganzen, wenn man an die einzelnen Begegnungen zurückdenkt, ist die Kluft doch größer, als man erwartet und erhofft hat, und zugleich überbrückbarer, sobald man auf der anderen Seite ein menschliches Gesicht sieht. Es gibt einzelne, die uns jede Grenze vergessen lassen; man sitzt sich nicht als Deutscher und als Schweizer gegenüber; man ist dankbar, daß man die gleiche Sprache hat, und schämt sich jeder Stunde, da man diese einzelnen vergessen hat. Die Mehrzahl freilich sind solche, die diese Versuchung wieder beschwören, die sich rechtfertigen und uns, ob wir wollen oder nicht, zum Richter setzen, der freisprechen soll, und wenn wir uns dazu nicht entschließen können, sondern schweigen oder an gewisse Dinge erinnern, die man nicht vergessen darf, trifft uns der stumme oder offene Vorwurf, daß wir richterlich sind –
     
    Das Erbarmen – kann es den Sinn haben, unser Urteil aufzulösen? Oder hat es nicht eher den Sinn, daß das Erbarmen uns über das Urteil, ohne es aufzulösen, hinausführte zum zweiten Teil der Aufgabe: zum Handeln, und wie sollte ein Handeln, das nicht aus einem Urteil kommt, jemals eine wirkliche Hilfe sein? Hilfe bedeutet Veränderung im Sinne einer Erkenntnis; beides im Maße unseres Vermögens –
     
    Oft die Empfindung, daß die einzige Zukunft, die möglich ist, wirklich bei den Verzweifelten liegt; aber es fragt sich dann immer, wieweit der Selbstekel, der zum Anhören ebenso erschütternd wie peinlich ist, fruchtbar werden kann, wieweit er einVorbote wirklicher Erkenntnis ist, die wir als Verzweifelte eigentlich schon haben, aber noch nicht annehmen; sondern wir übertreiben sie ins Maßlose: damit sie uns selbst unglaubhaft wird. Das aber wäre wieder die Ausflucht in einen Überschwang, der uns nie verändert.
     
    Vor allem ist es natürlich das Elend, das jede Veränderung, noch wo sie möglich wäre, mehr und mehr verhindert. Wenn ich in tödlicher Lungenentzündung liege und man meldet mir, daß mein Nachbar gestorben sei, und zwar durch mein Verschulden, mag sein, ich werde es hören, ich werde die
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